70 Jahre Kriegsende im Landkreis:Angst vor vergifteten Kaugummis

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Geteiltes Leid, geteilte Freud: Mia Daberger (li.) und Resi Starringer hatten Angst vor Luftangriffen, später freuten sie sich über die Bisquitrollen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Zwischen Überlebenskampf und Hoffnung: Mia Daberger und Resi Starringer aus Tulling erzählen von der Zeit des Luftkriegs und der Ankunft der Amerikaner, die einen Hauch von Luxus in das ausgezehrte Land brachten.

Von Michael Haas, Steinhöring

Am schlimmsten waren die Tiefflieger. Mia Daberger und Resi Starringer sind sich einig: Immer wenn die Sirene ging und wieder der Lärm von Flugzeugen zu hören war, bekamen sie Angst. Einmal, erinnert sich Starringer, sei ein Milchlaster auf dem Weg nach Wasserburg gewesen, als die Flieger unterwegs waren. "Die haben einfach geschossen, weil sie dachten, da sei Benzin oder so etwas drin." So schnell konnte es gehen.

Starringer war damals zwölf Jahre alt, sie besuchte die Schule in Steinhöring. Immer, wenn die Sirene erklang, mussten die Kinder das Schulgebäude verlassen. "Dann waren wir wieder auf der Straße", erinnert sich Starringer. Die Bomber flogen über Steinhöring hinweg und das Mädchen musste nach Hause gehen, zu Fuß in den Ortsteil Tulling. Etwa zweieinhalb Kilometer sind das. Immer wieder musste die Zwölfjährige unterwegs Zuflucht suchen, weil die Flieger so nah waren.

Bombardiert wurde Steinhöring zwar nie, doch den Luftkrieg über der bayerischen Landeshauptstadt bekam man auch in der kleinen Landgemeinde zu spüren. "Immer nachts, wenn München bombardiert wurde, sind die über unseren Kirchturm geflogen", erzählt Daberger. Die beiden jungen Mädchen fürchteten sich, Schutz vor den Bomben gab es nicht. "Mei, man hatte ja keinen Keller", erinnert sich die damals 15 Jahre alte Daberger.

Eines Morgens fanden die Steinhöringer dann einen Soldaten, der mit seinem Fallschirm in einem Baum hing. Die Aufregung damals findet Daberger auch heute noch übertrieben: "Ein paar Fanatische wollten den direkt erschießen." Der junge Mann sei dann aber doch verschont worden. Auch sonst zeigten sich die Steinhöringer offenbar milde gegenüber den anderen Kriegsparteien. Mehrere französische und russische Kriegsgefangene waren in Lagern ringsum untergebracht und arbeiteten bei den Bauern auf den Feldern oder bei der Bahn mit. "Bei uns sind die oft mal reingekommen und haben Bier getrunken", erzählt Starringer, deren Vater dafür zuständig war, dass das Lager der französischen Kriegsgefangen jeden Tag auf- und wieder zugesperrt wurde.

Auch Dabergers Mutter kümmerte sich als Tullinger Wirtin um die Gefangenen: Immer wieder habe sie ihnen Zigarettenstumpen zugesteckt, erinnern die beiden Frauen sich. "Das waren ja genauso Arme wie die Unsren", sagt Daberger heute. Und die Gefangenen vergaßen die kleinen Wohltaten nicht. Als der Krieg vorbei war, brachte ein amerikanischer Soldat drei ehemalige russische Kriegsgefangene zur Wirtschaft der Familie Daberger. "Nehmen Sie sich, was Sie wollen", sagte er zu ihnen. Daraufhin packten die drei mehrere Säcke voll und verließen das Haus. "Ein paar Tage später kamen sie dann aber mit allem wieder", erzählt Mia Daberger. "Sie waren so eine nette Frau, wir bringen ihnen das wieder", sollen sie zu ihrer Mutter gesagt haben.

Längst war die heute 85-Jährige mit ihrer Familie da umgezogen: Die Amerikaner hatten sie aus dem Wirtshaus geworfen, nachdem die Tullinger kapituliert hatten. Weil die Einwohner schon frühzeitig vom Herannahen der Alliierten Wind bekommen hatten, schickten sie einige französische Kriegsgefangene voraus. Hektisch hatte Starringers Mutter ihnen noch eine weiße Fahne aus einem Betttuch genäht. Am 3. Mai 1945 fuhren die Amerikaner mit Jeeps und Panzern in den Ort.

"Mein Gott, haben wir uns gefürchtet!" Mia Daberger hat den Moment der Kapitulation noch vor Augen. Die Soldaten zogen die Buben auf die Panzer und verteilten Kaugummi und Schokolade unter den Kindern. Die kannten das nicht und zögerten. "Sie dachten: Die vergiften uns", erzählt Daberger. Doch die Befreier bringen einen Hauch von Luxus in den ausgezehrten Ort. In der besetzten Wirtschaft machten sie Biskuitschnitten, die Kinder kamen in Scharen. "Die waren nicht geizig, da haben sie sehr an Ansehen gewonnen", erinnert sich Daberger.

Auch die Erwachsenen wollten an den Luxusgütern teilhaben. Immer wieder läuft die 12 Jahre alte Resi Starringer über die Reihen eines nahen Kartoffelfelds und sucht nach Zigarettenstumpen für den Vater. Und der Kaffeesatz, den die Amerikaner in Kübel und Eimer schütteten, war in ganz Tulling beliebt, wie sich Daberger fröhlich erinnert. "Das ganze Dorf hat das Zeug heimgetragen und aufgebrüht."

Etwa ein Jahr lang blieben die Soldaten in der Tullinger Wirtschaft, ehe Daberger und ihre Familie zurückziehen konnten. Doch die Amerikaner waren nicht nur nett, sondern griffen auch durch, wenn es nötig war. Starringers Eltern hatten während des Kriegs eine Familie aus München aufgenommen, die ausgebombt worden war. "Als der Mann gehört hat, dass die Amerikaner kommen, hat er große Angst gehabt", erinnert sie sich. Der Vater von zwei Kindern rannte in den Keller und versteckte sich. Vergeblich, denn schon kurz nachdem die Amerikaner in Tulling angekommen waren, standen sie vor der Haustür. "Die kamen, haben gleich nach ihm gefragt und ihn dann mitgenommen", sagt Starringer. Sie hat ihn nie wieder gesehen.

In den nahen Heereslagern der Reichswehr und den Geschäften begannen derweil die Plünderungen. Auch Starringers Vater war mal dabei, aus einem Nachbarort wollte er Wein entwenden. "Dann haben sie ihm das Radl geklaut", erzählt die 82-Jährige lachend. Auch das nahe Lebensbornheim, in dem Frauen anonym gebären und ihre Kinder zur Adoption freigeben konnten, wurde zum Ziel. Die Kinderärzte hätten noch Jahre später von Müttern erzählt, die ihre Kinder in die mit einem Emblem versehene Unterwäsche gesteckt hätten, erinnern sich die beiden Frauen. Von dem Heim selbst habe man während des Kriegs aber nur wenig mitbekommen. "Hin und wieder hat man die werdenden Mütter mal Spazierengehen sehen", sagt Daberger. Ein Gespräch hätten weder die Frauen, noch die Einheimischen gesucht. "Man hat gewusst, dass es das gibt. Aber die wenigsten wussten, was das genau war", erzählt sie.

In den Monaten nach dem Krieg wächst Steinhöring und mit ihm auch Tulling unaufhaltsam. Innerhalb von 24 Monaten steigt die Einwohnerzahl um fast die Hälfte auf 2313. "In das ganze Dorf kamen Flüchtlinge, das war ein Durcheinander", erinnert sich Daberger. Räume wurden beschlagnahmt, um die Vertriebenen und die Ausgebombten unterbringen zu können. In ihrer Wirtschaft nahmen Daberger und ihre Familie zeitweise bis zu 30 Familien auf, sie alle schliefen im Saal des Gasthofs und wurden dort versorgt.

Die Menschen hielten zusammen in dieser Zeit, davon sind die beiden Frauen auch heute noch beeindruckt. "Es ging halt ums Überleben", sagt Daberger und sagt dann noch einmal diesen Satz, den sie während des Erzählens immer wieder sagt: "Es war halt eine ganz schlimme Zeit."

© SZ vom 18.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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