Poing:Semmeln auf Rädern

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Werner Dürschmied fährt mit seiner mobilen Backstube in die kleinsten Dörfer, wo es schon lange keine Geschäfte mehr gibt. Die Kunden lieben seine Waren und den Plausch mit dem 62-Jährigen

Von Carolin Fries, Poing

Es gibt ein paar Sprüche, die hat Werner Dürschmied immer parat. Mit welchem er sein Gegenüber begrüßt, macht er abhängig von dessen Kopfhaltung. "Wenn's ganz zwamzogn kema, sog ich gar nix." Ansonsten: "Ja wie schaugst denn du heit aus?", "Hast deine Krawattn vergessen?" oder "Wie immer?"

Werner Dürschmied ist kein Friseur, wenngleich auch er von oben auf seine Kundschaft herabblickt. Jeden Tag außer montags und sonntags ist er mit einem mobilen Verkaufswagen der Poinger Bäckerei Heiß im Landkreis Ebersberg unterwegs. Fährt er die seitliche Fahrzeugklappe zum Verkaufstresen per Knopfdruck hoch und tritt dahinter der schlanke 62-Jährige mit der winzigen Zahnlücke in der oberen Reihe in Erscheinung, ist das nicht der Beginn eines trockenen Verkaufsaktes. Für die allermeisten Kunden geht dann kurz die Sonne auf. Vor allem an diesem elf Grad kalten Tag, an dem sich Dürschmied von einer Reporterin begleiten lässt.

Werner Dürschmied hat eingeheizt, morgens um 4.45 Uhr verlässt der Poinger seine Wohnung, um ein paar Straßen weiter seine "mobile Backstube" einzuräumen. Gebacken wird in der Backstube auf Rädern freilich gar nicht, aber es riecht zumindest wie in einer Bäckerei. Dürschmied streicht Butterbrezen und belegt Semmeln, richtet den Kuchen auf den Blechen und die Brote ins Regal. Im Wohngebiet Bergfeld versorgt er von 6.30 Uhr an in aller Regel höchst geschäftige Menschen, die sich auf dem Weg in ihre Büros oder zum Kindergarten noch mit einem Frühstück versorgen. Das Bergfeld: In dem unübersichtlichen Wohngebiet der Wachstumsgemeinde ist der kleine Renault mit dem immer gleichen Gesicht hinter Steuer und Tresen der Bäcker um die Ecke, den es hier, nahe des Einkaufszentrums City Center nicht gibt. Die mobile Backstube ist das Kontrastprogramm zum Kauf bei einer der großen Bäckereiketten. "Wir sind wie eine Familie", sagt Dürschmied, der den Großteil seiner Kundschaft duzt. In dieser Familie hat er die Rolle des freundschaftlichen Vaters, dessen Kinder erwachsen und erfolgreich sind, die man mit einem lockeren Spruch ein bisschen aufheitern kann.

Werner Dürschmied hat selbst zwei erfolgreiche Kinder, der Sohn ist Rechtsanwalt, die Tochter Diplom-Erzieherin. Er selbst hat nicht sein Leben lang Semmeln ausgefahren. Als gelernter Lithograf hat er sich mit einer Werbeagentur selbständig gemacht, 18 Jahre lang geschuftet, bis er nicht mehr konnte und wollte. Er war Anfang 50, als er ausstieg. Zu früh zum Nichtstun. Als ihm sein Bruder, der mit dem Bäckermeister Heiß Tennis spielte, das Angebot als Semmelfahrer machte, "da bekam ich einen Lachkrampf". Seither lächelt Werner Dürschmied täglich mehrmals.

700 Kunden bedient er in der Woche, mehr als 2000 Kilometer legt er jeden Monat mit seiner Backstube zurück, jeden Tag eine andere Tour. "Das einzige was mich aufregt, sind die anderen Autofahrer". Die Touren hat er vor elf Jahren von seinem Vorgänger übernommen und selbst ausgebaut. Er beliefert Firmen, Privatkunden und steht auf Marktplätzen. Freitags ist er elf Stunden unterwegs und doch ist es sein Lieblingstag, weil es über Buch und Moosach geht, eine "so herrliche Gegend". Längst hat er jeden Halt im Kopf, auch wenn er die Straßennamen nicht kennt. Er lenkt den Wagen mit seinen insgesamt 160 000 gefahrenen Kilometern gekonnt in Kiesgruben und vor Einfahrten, "manchen fahr ich so hin, die werdn koan Tropfa nass." Helmut Prochazka zum Beispiel. Man sieht den 73-Jährigen durch das Fenster am Esstisch aufstehen, wenn Dürschmied per Knopfdruck sein "Glöckerl" scheppern lässt, mit dem er sich schon von Weitem ankündigt. Seit 30 Jahren kauft Prochazka jede Woche ein niederbayerisches Brot, die Spezialität der Bäckerei Heiß. "In ganz Ottendichl gibt's ja nichts mehr", sagt er, der nach Haar zum Einkaufen muss.

Etwa 20 Bäcker gibt es im Landkreis - noch, es werden nämlich immer weniger. Martin Rieger, Obermeister der Ebersberger Bäcker-Innung, hat keine konkreten Vergleichszahlen der vergangen Jahre parat, er schätzt den Rückgang auf jährlich zwischen drei und fünf Prozent. Gründe gibt es viele, umso wichtiger seien Überlebensstrategien: der Ausbau des Gastronomiebereichs etwa, die Filialisierung oder die Spezialisierung auf Bioprodukte. Auch den mobilen Verkauf hält der Bäckermeister aus Anzing für "durchaus sinnvoll", wenngleich man hier gut rechnen müsse, seien die Investitionen und die Personalkosten doch vergleichsweise hoch. Wie viele Bäcker durch den Landkreis touren, weiß er nicht. Viele seien es aber nicht. "Die immer dichtere Siedlungsstruktur spricht ja eher dagegen", sagt er, "wenngleich der Servicebedarf schon allein aus demografischen Gründen immer größer wird."

Sylvia Heiß und ihr Mann Josef haben die rollende Backstube vor 40 Jahren ins Leben gerufen und schicken sie durch die Landkreise Ebersberg, München und Erding. "Natürlich haben wir damit Unkosten", sagt Sylvia Heiß, doch das Geschäftsmodell würde so gut angenommen, dass es wirtschaftlich sei. "Die Leute rufen an, wenn der Wagen sich verspätet." Die Leute: Sie wollen auch, dass Werner Dürschmied mit einer fast leergekauften Backstube kommt, bevor er gar nicht kommt. Dann gibt es zwar nicht mehr den Lieblingskuchen zum Nachmittagskaffee, aber wenigstens noch ein paar nette Worte. "Ist so", betont der Verkäufer, der diese Erfahrung bereits gemacht hat.

Sylvia Heiß hat schon viele Fahrer beschäftigt, "der Werner ist ein besonderer", sagt sie. Fragt man die Kunden auf der Donnerstagstour, sagen sie, er sei immer lustig. "Wir zwei verstehen uns wie ein altes Ehepaar", sagt Herbert Riedl. Der 57-Jährige ist einer von Dürschmieds Lieblingskunden, bekommt drei Mal wöchentlich die Brotzeit an den Arbeitsplatz nach Putzbrunn geliefert. Wenn er "das Drum mit dem Mäusedreck" bestellt, freut sich Dürschmied und packt das Ciabatta mit Schwarzkümmel in die Tüte. In eine zweite Tüte packt er einen Apfelkrapfen, ohne dass Riedl was sagt. Der "Apfel" ist für den Hund, "weil der sonst eingeschnappt ist", wie Riedl erklärt. Dürschmied kennt die Besonderheiten, die Geschichten seiner Kunden über Chefs, über das Zuhause oder die Freizeit. Christian Reinsch zum Beispiel aus Zorneding: Mathematikprofessor, 82 Jahre alt, radelt von März bis Dezember jeden Tag 25 Kilometer im Ebersberger Forst. "Ich bin gut im Fahrplan", sagt er zu Dürschmied auf Nachfrage, kauft drei Krapfen und geht wieder. "Wenn ich mal aufhöre", sagt Dürschmied später im Auto, "dann nicht auf einmal. Das kann ich den Leuten nicht antun." Es ist nur die halbe Wahrheit, denn sich selbst kann er das ebenso wenig antun.

Er fährt jetzt über Landsham zurück in Richtung Grub, nur noch ein kurzer Halt bei einer älteren Dame. Sie hat ihn mal angesprochen, ob er nicht auch liefern könne, der Weg zum Markt sei so beschwerlich. Dürschmied klingelt seither bei ihr an der Tür. Eigentlich ließen seine Touren keinen Spielraum mehr zu - "doch das tut mir dann auch leid", sagt er. Zuletzt hat er noch Neukeferloh eingebaut. Nachdem das örtliche Lebensmittelgeschäft geschlossen wurde, hatte die Gemeinde Grasbrunn angerufen und um einen zusätzlichen Halt gebeten. Nach Auskunft des bayerischen Wirtschaftsministeriums aus dem Jahr 2015 gibt es in jeder vierten bayerischen Kommune keinen Lebensmittelmarkt mehr. In 158 Gemeinden gibt es nicht einmal mehr einen Bäcker oder Metzger.

Die letzte Station an diesem Vormittag ist eine verregnete Straße in Landsham. Zwei Damen eilen mit Einkaufskörben unter den Armen und Hausschuhe an den Füßen herbei. Susanne Schmid stellt den Porzellanteller auf den Verkaufstresen, "donnerstags gibt's Kuchen, da koche ich nicht". Sie kauft noch Eier, Brot und fragt Dürschmied, ob er nächste Woche wiederkomme. "So Gott will" antwortet der, fährt die seitliche Abdeckung runter und schaltet das Licht aus.

© SZ vom 11.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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