Mitten in Vaterstetten:Yoga am Schreibtisch

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Was Karl Marx und Sigmund Freud mit einem Hartplastik-Buddha zum Feierarbend zu tun haben.

Von Anselm Schindler

Zwei Frauen sitzen in der S 4: Es ist Feierabend, die beiden kommen gerade aus dem Büro. Mit genervten Mienen unterhalten sie sich über die Chefetagen, über den Druck beim alltäglichen Rackern und das Funktionieren. Die Phrase der "Work-Life-Balance" hängt bereits in der Luft, "und, was machst du so, um das auszugleichen?" "Beim Yoga kann ich abschalten", erklärt die eine.

Schon Psychoanalytiker Sigmund Freud beklagte die Unterdrückung innigster menschlicher Bedürfnisse des Einzelnen um des Funktionierens der Gesellschaft willen. Ob Freud sich jemals zu Yoga geäußert hat, ist leider nicht bekannt. Eigentlich, so schrieb der Soziologe Herbert Marcuse in Anlehnung an Freud dann einige Jahrzehnte später, sei eine Gesellschaft jenseits des Leistungsprinzips möglich, eine Position, die in den 1960er-Jahren viele vertraten, gerade angesichts des technischen Fortschritts, der doch die unlustvolle Arbeit minimieren könne.

Von der "Work-Life-Balance" hätte Marcuse vermutlich wenig gehalten, dient sie durch die Um- und Ablenkung von Frust doch dem Bestehen der gesellschaftlichen Verhältnisse. Auch die Freizeit gehorcht inzwischen der Leistungsgesellschaft: Am Feierabend abstrampeln, um sich abzulenken, fit zu halten und weiter funktionieren zu können. Der Hartplastik-Buddha im Wellness-Center und der Chef scheinen inzwischen mit einer Stimme zu sprechen: "Erhol dich! Und komm morgen pünktlich!" "Viel Spaß", wünscht die eine Büro-Angestellte ihrer Kollegin, die in Vaterstetten aussteigt, um noch eine Runde ins Fitness-Studio zu gehen. "Spaß?", fragt diese mit einem gequälten Lächeln. "Hauptsache, es geht weiter."

Hauptsache es geht weiter. Ohne Stillstand und ohne Ausfall. Ob es Sinn macht, den Zumutungen der Leistungsgesellschaft auf der Yoga-Matte zu begegnen? Wäre die Arbeiterbewegung zu Zeiten von Karl Marx ins Fitness-Studio gegangen anstatt zu streiken, dann hätten wir heute vermutlich keinen Acht-Stunden-Tag. Dafür aber vielleicht eine Yoga-Matte neben dem Schreibtisch.

© SZ vom 25.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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