Kommentar:Ins Messer laufen lassen

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Am Ärger über die nicht angekündigte Sperrung der Grafinger Bahnübergänge für Fußgänger trägt allein die Bahn die Schuld

Von Anja Blum

Wer hätte gedacht, dass Grafing einmal Berlin nacheifern würde? Und doch ist es beileibe keine Übertreibung zu sagen, dass Grafing seit Dienstag eine geteilte Stadt ist. Wer mit dem Auto vom Norden in den Süden will oder umgekehrt, muss sich entweder in die Schlange am Bahnübergang an der Jahnstraße einreihen oder eine ganz große Schleife über die Ebersberger Umfahrung oder Grafing Bahnhof fahren. An allen anderen Stellen nämlich sind sprichwörtlich die Schranken gefallen. Hinzu kommen die vielen Busse, die sich durch die Stadt quetschen, sowie die Sperrung der Rotter Straße. Der totale Verkehrskollaps scheint da oft nicht mehr fern.

Doch all dieses Unbill der Autofahrer ist nichts gegen das, was die Grafinger Schüler und ihre Familien gerade erlebt haben: Da die Gleise auch für Fußgänger nicht mehr zu überqueren sind, kommen alle Kinder, die nördlich der Bahnlinie wohnen, nun nicht mehr auf ihrem gewohnten Weg zur Schule. Sechs-, Sieben- und Achtjährige standen am Dienstagmorgen plötzlich vor dem unpassierbaren Übergang am Bahnhof in der Stadtmitte - völlig unverhofft. Weil offenbar in Grafing niemandem bewusst war, was eine Sperrung in den Augen der Bahn bedeutet, nämlich ein komplettes Überquerungsverbot für alle Verkehrsteilnehmer, hatte keiner interveniert - und war letztlich niemand auf diese Situation vorbereitet.

Auch wenn offenbar alle Kinder wohlbehalten in der Grundschule an- und mittags auch wieder nach Hause gekommen sind - man mag sich kaum vorstellen, was dieses Erlebnis in der ein oder anderen jungen Seele angerichtet hat. Nicht alle Schüler sind schließlich so tough und selbständig, dass sie kurzerhand in ihren früheren Kindergarten gehen und dort um Hilfe bitten. Vielmehr werden an diesem Tag in Grafing sicher einige Tränen geflossen sein.

Anzulasten ist dies, ganz klar, der Bahn. Ihren Verantwortlichen hätte - spätestens bei einem Blick auf den Stadtplan - bewusst sein müssen, was eine solche Zweiteilung für einen Ort wie Grafing bedeutet. Schließlich sind sie es, die bereits jede Menge Erfahrung mit solchen Baumaßnahmen haben und ganz genau um ihre Konsequenzen wissen, nicht die Rathausbediensteten. Und so liegt der Verdacht ziemlich nahe, dass die Sperrung für Fußgänger von Seiten der Bahn ganz bewusst nicht problematisiert wurde. Sonst hätte man vielleicht noch mehr Zugeständnisse machen müssen als die wechselseitige Öffnung der Übergänge an der Bahnhofstraße. Lotsen für Schüler zum Beispiel, nicht nur für Pendler. Oder eine Querungsmöglichkeit am Stadtbahnhof morgens und mittags. So aber haben sie die Schüler ins Messer laufen lassen.

Nun liegt es in der Verantwortung der Eltern, ihren Nachwuchs durch eine chaotische Stadt unbeschadet zur Schule zu bringen. Wochenlang. Sie werden gute Nerven brauchen, so viel steht fest.

© SZ vom 27.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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