Ende des Zweiten Weltkriegs:Die Spitzel im Ort

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Therese Neumayr erinnert sich an Tiefflieger über Frauenneuharting, fliehende Soldaten und die ständige Angst, in den letzten Kriegstagen noch Probleme mit dem NS-Staat zu bekommen - so wie ihr Großvater.

Von Alexandra Leuthner, Frauenneuharting

Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Forschungsanstalt der Reichspost in Jakobneuharting beschossen. Eine Famile starb. (Foto: Christian Endt, Fotografie & Lic)

Es sind diese Puzzleteile, diese Erinnerungsstücke an dies und jenes, die ein Bild ergeben, wenn man sie zusammensetzt, die eine Stimmung malen von dem, was gewesen ist. Therese Neumayr ist gut darin, ein solches Bild zu schaffen von den Kriegszeiten in Frauenneuharting und den letzten Kriegstagen mit den Puzzlestücken ihrer Erinnerung. Typische Kinderbilder sind darunter, von einer Horde Halbwüchsiger aller Altersklassen, "wir waren immer so um die 60 Kinder im Dorf", erzählt sie, Kinder die Hüpfspiele machten oder bolzten. Spielzeug haben sie ja keins gehabt, "wenn einer einen Ball hatte, dann war das viel", erzählt sie. "Und im Löschweiher sind wir dann zum Baden gegangen." Ein paar Schritte von dem Haus entfernt, das sie lange nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut hat und wo sie jetzt wohnt, gibt es den Löschweiher immer noch, unten zwischen Brunnberg und Leitenweg. Nur baden würde wohl keiner mehr darin.

Verschwunden ist dagegen der Bunker, der in den Berg gegraben war. Gleich neben der Grundschule war das. Die Anhöhe ist nach dem Krieg ausgeglichen worden, um Häuser darauf zu bauen. Auch so ein Bild, das die 83-Jährige aus ihrem Gedächtnis kramt. Wie die Sirenen losheulen, weil wieder einmal die Tiefflieger über den Feldern im Formationsflug hängen, immer in Richtung Osten sind sie geflogen, "immer der Hauptstraße nach", über Steinhöring und Ebersberg bis nach München.

Und wie dann alle Kinder aufgesprungen sind in den beiden Klassenräumen im Obergeschoss und losgerannt sind zum Bunker hinüber. "Die Bauern nicht, die sind draußen geblieben auf den Feldern" - obwohl man die Druckwelle gespürt habe von München heraus, wenn dort die Bomben einschlugen. Den Dörfern hier draußen wollten die Alliierten nichts. Und doch sei man nie mitten auf der Straße gegangen, wenn man in den Feldern unterwegs war, "nur dicht am Waldrand, immer unter den Bäumen. Und ein weißes Kopftuch, das haben wir auch nicht tragen dürfen", erzählt Therese Neumayr.

Und dann gab es doch dieses eine Mal, im Dezember 1944, als die alliierten Flieger bei Tegernau die Felder bombardierten und eine weitere Staffel gleichzeitig die Jakobneuhartinger Filze. Ein einziges Haus ist dabei in Schutt und Asche gelegt worden, eine Mutter und vier ihrer Kinder kamen dabei ums Leben. "Mein Vater hat uns nicht hingehen und schauen lassen hinterher, weil die so einen schrecklichen Ausdruck im Gesicht gehabt haben", erzählt Therese Neumayr. Eine Tochter jener Familie, die schon in München ausgebombt worden und auf das vermeintlich sichere Land geflohen war, sei in dem Augenblick zu Besuch gewesen bei den Eltern, eine andere war im Dorf, als die Flieger kamen, "gleich hier, beim Haus da drüben, an der Haustür hat sie gestanden".

Und dann hörte der Lärm der Flieger mit ihren Bomben, wegen denen man nicht mal mehr zur Heiligen Stunde am Abend in der Kirche zusammenkommen durfte, weil die Fenster nicht zu verdunkeln waren, plötzlich auf. Anfang Mai 1945 war das. Gerüchte flogen durchs Dorf, dass es vorbei sei mit dem großen Krieg. "Ich weiß nicht mehr genau, ob das am 2. Mai war oder am 3." Im Bauernhof neben der Kirche, wo die kleine Therese daheim war, schwankte die Familie zwischen Hoffen und Bangen. Jetzt nur nichts falsch machen. Man hatte das ja erlebt in den vergangenen Jahren, wie leicht es war, etwas falsch zu machen in diesem Land. "Man hat schon gewusst, dass die Spitzel unterwegs waren." Und wer die Parteiabzeichen trug. "Dem Schullehrer", erinnert sich Therese, "sind wir immer aus dem Weg gegangen, den hätten wir ja mit dem Hitlergruß grüßen müssen". In der Schule habe er immer als Erstes den Wehrbericht abgefragt in der Früh. "Der war ein 200-Prozentiger." Daheim vor den Kindern, erzählt sie auch, "is' nie was g'sagt worden, es hätt' ja eins was verraten können draußen".

Die Geschichte mit dem Großvater saß der Familie schließlich tief in den Knochen. Der Star hatten den alten Mann blind gemacht, und so hatte er auch nicht sehen können, dass jemand im Türrahmen stand und ihn beobachtete, als er wieder einmal heimlich Feindsender hörte. Nur Thereses Mutter bekam es mit, als sie mittags vom Feld heimkam, barfuß, und die Frau aus der Flüchtlingsfamilie aus Münster dort stehen sah, der sie in ihrem eigenen Hof eine Unterkunft geschaffen hatte. Und so war auch klar, wer den Großvater beim Ortsgruppenleiter denunziert hatte. "Für so etwas kommst du nach Dachau", habe es geheißen. "Doch da gab es einen beim Bezirksamt, den hat mein Großvater gut gekannt aus seiner Zeit als Bürgermeister, der hat halt auch gerne mal etwas essen wollen, und der hat dann die Akte verschwinden lassen."

Dass Hungrige aus der Stadt oder aus den Nachbardörfern, die keine Landwirtschaft hatten, bei der Bauernfamilie um Hilfe baten, war nichts Neues in der Kriegszeit. "Einen Apfel und ein Stück Brot haben wir immer gehabt und meine Mutter hat gesagt, sammelt's den Leuten, die fragen, die Äpfel am Boden im Obstgarten auf und gebt sie ihnen mit." Auch die deutschen Soldaten, die in den letzten Kriegstagen in Scharen in Frauenneuharting einfielen auf der Flucht vor den Alliierten, brauchten etwas zum Essen. "Man hat versucht, gut auszukommen mit den Soldaten."

Und dann, an jenem 2. oder 3. Mai, seien die vielen deutschen Soldaten geflohen, nach Rott am Inn, erinnert sich Therese Neumayr. Doch schon am Abend seien neue gekommen, mit 80 russischen Gefangenen im Schlepptau. Und wieder haben die Frauenneuhartinger fremde Mäuler zu stopfen versucht, bis die auch wieder weggebracht wurden, "Richtung Grafing, und da sind sie dann den Amerikanern in die Arme gelaufen". Im Nebenhaus der Neumayrs waren französische Kriegsgefangene, auch deutsche Soldaten versteckten sich noch im Dorf. "Wir haben ja nur noch Angst gehabt."

Thereses Vater, der 1940 nach Hause gedurft hatte, weil die Mutter schwanger und niemand mehr zum Arbeiten da war, habe dann den Pfarrer auf die Seite genommen und gesagt, er solle die weiße Fahne hinaushängen, "man hat ja schon gehört, dass die Amerikaner kommen". Die kamen dann auch, "sie sind erst mal unten auf der Straße an der Filzen vorbeigezogen", und die Franzosen aus dem Nachbarhaus liefen hinunter zu ihnen. "Und dann kamen die Amerikaner rauf und haben die deutschen Soldaten abgeholt." Mittags seien dann zwei amerikanische Panzer ins Dorf gefahren, "und das Stubenmädchen vom Wirt, die war eine Halbjüdin, hat sich auf die Straße gestellt und mit ihnen geredet. Dann sind sie weiter nach Jakobneuharting, der Ortsgruppenleiter saß ja dort, den haben sie rausgeholt aus seinem Haus und sich dort einquartiert."

Dass die US-Soldaten den Ortsgruppenleiter nach Moosburg am Inn in ein Kriegsgefangenenlager brachten und ein paar Wochen später einer von ihnen die schwangere Frau des ehemaligen Nazi-Funktionärs zur Entbindung ins Krankenhaus fuhr, gehört ebenso zu Therese Neumayrs Erinnerungen an die ausgehenden Kriegstage wie die Geschichte von der ukrainischen Zwangsarbeiterin Nadija, die auf dem Bauernhof der Familie Neumayr untergebracht war. "18 Jahre alt war sie und hat immer so Zeitlang gehabt nach ihrer Mutter." Die kleine Therese hatte dem Mädchen immer in deutschen Buchstaben die Adresse auf ihre Briefe nach Hause schreiben müssen, "weil die haben ja eine andere Schrift gehabt, die hat hier bei der Post keiner lesen können".

Am Ende des Kriegs seien die Zwangsarbeiter weggeschickt worden, "aber nicht nach Hause", das hätten alle gewusst, "und die haben auch gar nicht hier weg wollen". Eine Ukrainerin, die in der Nachbarschaft gearbeitet hatte, konnte in München, wo sie in den Zug gesteckt worden war, auf der anderen Seite wieder hinausklettern und zurückkommen, "ohne Gepäck und ohne alles, das hat man ihr ja schon vor dem Zug abgenommen. Von Nadija aber haben wir nie wieder etwas gehört."

Die ersten Tage im Mai 1945 brachten der Familie Neumayr neben aller Erleichterung dann doch noch einen großen Schrecken ein, als die Amerikaner in ihr Haus kamen. Thereses Vater war der Verwalter der Raiffeisenkasse im Ort und sie erinnert sich: "Abends kamen sie ins Haus und haben ein Plakat aufgehängt. 'Off limits' stand drauf. Da hat dann keiner mehr zu uns reindürfen. Sonst ist nichts gewesen. In Frauenneuharting ist kein einziger Schuss gefallen."

© SZ vom 26.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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