Barrierefreie Kunst:Jedem seine eigene Geschichte

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Künstlerin und Kunsttherapeutin Gisela Heide nimmt eine Gruppe der Offenen Behindertenarbeit mit auf einen barrierefreien Rundgang durch die Ausstellung des Ebersberger Kunstvereins. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Gisela Heide führt eine Gruppe der Ebersberger Offenen Behindertenarbeit durch die Ausstellung des Kunstvereins

Von Johanna Feckl, Ebersberg

Holger Unzeitig drückt ein weißes Blatt Papier gegen die Wand. In seiner linken Hand hält er eine blaue Wachskreide. Langsam und behutsam streicht er mit dem Stift von rechts nach links. Immer wieder hält er kurz inne und begutachtet das blaue Muster, das mit jedem Strich immer größer auf dem Papier erscheint. Frottage nennt sich diese Maltechnik: Man legt ein Papier auf eine Fläche, reibt mit Kreide oder Grafit darüber und überträgt dadurch die Oberflächenstruktur auf das Papier. Nach einer Weile nimmt Holger Unzeitig sein Werk von der Wand und zeigt es Gisela Heide, die ihm und den übrigen sieben Menschen der Gruppe die Maltechnik nach der Führung durch die aktuelle Ausstellung des Ebersberger Kunstvereins von Gabriele Obermaier und Won Kun Jun erklärte. Unzeitig tauscht seine blaue Wachskreide gegen die orangefarbene in Heides Hand und malt weiter.

Es war keine herkömmliche Besichtigung der Galerie des Kunstvereins - nicht nur, weil die Besucherinnen und Besucher anschließend die Gelegenheit bekamen, selbst einige Maltechniken auszuprobieren. Die Führung am Freitag war auf die Bedürfnisse für Menschen mit einer geistigen und körperlichen Behinderung ausgelegt. "Das ist das erste Mal, dass wir einen solchen Ausflug machen", sagte Fabian Kraemer von der Offenen Behindertenarbeit (OBA) des Bayerischen Roten Kreuzes in Ebersberg. Die OBA unterstützt Menschen mit einer Behinderung und deren Angehörige, das umfasst Beratungsgespräche, aber auch Freizeitangebote für Gruppen, wie der Besuch der Ausstellung eines ist.

Die Künstlerin und Kunsttherapeutin Gisela Heide, die die Gruppe durch die Galerie führte, stellte an diesem frühen Abend eine Frage sehr häufig: "Woran denken Sie, wenn Sie das hier sehen?" Eine Frage, die man als Teilnehmer an einer Führung eigentlich selten hört. Aber Heide lehnte diese Konvention bewusst ab. "Ich versuche sehr stark die Leute dort abzuholen, wo sie stehen", erklärte sie. Und um herauszufinden, wo der individuelle Standort ist, sei es wichtig, die Leute unverblümt danach zu fragen: "Wie geht es Ihnen mit dieser Skulptur?"

Heide legte Wert darauf, dass die Kunst Assoziationen auslöst. "Es soll nicht so sehr um Wissensvermittlung gehen, wie es vielleicht sonst der Fall ist", sagte sie. Stattdessen versuchte sie durch ihre Fragen einen Raum zu schaffen, in dem die Besucherinnen und Besucher ihre eigenen Geschichten erzählen.

Dieses Vorhaben gelang bei der OBA-Gruppe. Selbst diejenigen, die sich eher im Hintergrund hielten und sich nicht so sehr für die konzeptionell gehaltene Kunst der Ausstellung begeistern konnten, gingen auf Heides Fragen ein. Einige der Skulpturen von Gabriele Obermaier stellen Objekte dar, die in der Vorstellung mit Kriegsführung verknüpft sind: Raketen, Bomben, Dynamitstangen.

Nicht für alle war das auf den ersten Blick ersichtlich. Die einen sahen in den Raketen Schiffsschrauben, und die Dynamitstangen, "das sieht aus wie ein Windspiel", bemerkte eine Frau aus der Gruppe. Als Gisela Heide die Intention der Künstlerin erklärte, nämlich einen Kontrast zwischen den eigentlich harten und tödlichen Waffen auf der einen Seite und den von ihr gewählten weichen Materialien wie Filz auf der anderen Seite zu schaffen, nickte die Frau. Nun erkannte auch sie das Prinzip.

Beim abschließenden Malversuch entschieden sich einige aus der Gruppe fürs Zusehen. "Man muss schon schauen, ob man Talent für Kunst hat - und ich bin dazu zu ungeduldig", sagte etwa Renate Böhm als Begründung. "Aber ich finde es sehr spannend ", betonte sie.

Holger Unzeitig hingegen malte gleich acht Bilder. Das verwundert nicht, denn schließlich male er oft in seiner Freizeit, wie er erzählte. Meistens allerdings mit Aquarelltechnik, Landschaften und Wasser - "erst vorzeichnen, dann ausmalen", erklärte er seine Vorliebe. Dass er hier etwas Neues lernt, gefiel ihm. Bei so viel Begeisterung fiel das Urteil von Sozialpädagoge Fabian Kraemer, der die Gruppe begleitet hatte, eindeutig aus: "Das war bestimmt nicht unser letzter Besuch einer Kunstausstellung!"

© SZ vom 18.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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