Die Stadt feiert:Es riecht nach Sommer

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Musik in der ganzen Stadt, Tanz in den Mai, Maibaum-Feste und Kundgebungen: Eine Vielzahl an Veranstaltungen zieht die Bürger ins Freie - Tag und Nacht

Von Judith Nikula, Jakob Wetzel und Elisabeth Kagermeier

Je wilder die Nacht, umso mehr Stempel tragen die Feiernden auf dem Handrücken. Alle 50 Meter ein Konzert, so ist das bei der langen Nacht der Musik - auch wenn sich einige inoffizielle Auftritte eingeschlichen haben. Münchens erste ernstzunehmende Sommernacht, Tanz in den Mai, das läppert sich. Unter der Wittelsbacherbrücke lädt der Hip-Hop-Künstler Manekin Peace am Samstagabend zu einer spontanen Jamsession. Zum Abschluss vom Radikal-Jung-Festival gibt es Indie-Rock von den Monday Tramps. Die Freunde von Freiluft-Techno-Partys werden mittels Google-Maps in die Nähe der Brudermühlbrücke gelockt - und in der Innenstadt hat man die Qual der Wahl.

Früher Abend, am Odeonsplatz: fröhliches Stimmengewirr, Freunde umarmen sich zur Begrüßung, kaufen ihr erstes Bier für den Abend, blättern in blauen Programmheften: Zum 17. Mal findet in München die lange Nacht der Musik statt, das Spektakel mit rund 400 Konzerten in der gesamten Innenstadt. Bei der offiziellen Eröffnung im Theatinerhof kündigt Staatssekretär Georg Eisenreich ein "wahres Genusserlebnis für Musikfreunde" an. Ein vielfältiger Abend soll es werden, mit zahlreichen Musikgenres von mehr als 220 Bands in insgesamt 112 Spielstätten - kurz: die beste Möglichkeit, neue Musik an neuen Orten zu entdecken.

Das will natürlich geplant sein: Singer-Songwriter spielen in einer Burger-Bude, zum Tanzen lohnt ein Abstecher ins Foyer der Gema, wo die Young Chinese Dogs spielen. Andere lassen sich lieber durch die Viertel treiben, schlendern mal hier, mal dort vorbei, nehmen die Musik, wie sie kommt.

Es ist ein Abend der spannenden Gegensätze. Sowohl die Musikstile, die von Gothic bis Klassik reichen, als auch die Spielstätten an sich könnten nicht unterschiedlicher ausfallen: So geht es von der modernen Architektur der verglasten Lounge am Lenbachplatz, wo Newcomer aus Jazz, Pop und Klassik auf den zwei Bühnen stehen, hinüber nach Giesing in die andächtige Atmosphäre der Heilig-Kreuz-Kirche. Im Kirchenschiff inszeniert Philipp Geist ein Lichtkunstprojekt, das Sternschnuppen durch den Raum schweben lässt und die hohen Decken türkis, gelb und magenta einfärbt, während Dirigent Michael Hofstetter sein Ensemble mehrstimmige Vokalmusik aus dem Frühbarock singen lässt. Ein audiovisuelles Erlebnis, das den Trubel auf den Straßen Münchens kurz vergessen macht.

Ersten Schätzungen zufolge hat die lange Musiknacht etwa 20 000 Besucher in die Innenstadt gezogen. Der Abend ist mild, die Menschen tanzen. Viel braucht es bei solch einer Stimmung nicht, um das Publikum zu begeistern. Es ist kurz nach Mitternacht, als die beiden Musiker von Woodbox mitten im Soundcheck auf der Bühne im Gasteig die Titelmelodie der Kinderserie "Heidi" anstimmen und lautstark ein gekühltes Weißbier fordern. Interessant.

Der langen Nacht der Musik folgt ein langer Nachhauseweg. In ganz München ist nur schwer ein Taxi zu bekommen - von zuweilen 30 Minuten Wartezeit ist die Rede. Und das, obwohl doch bereits am Sonntagmorgen die nächsten Aktivitäten warten - und schönste bayerische Tradition.

So ist etwa in Kirchtrudering der neue Maibaum feierlich aufgestellt worden - nachdem er zuvor von den Unterbrunner Burschen gestohlen worden war. Und mitten in der Stadt haben die Münchner am Sonntag ihr Kulturfest, eingeleitet von den Maikundgebungen am Vormittag, gefeiert - und alles ganz harmonisch: Da kann SPD-Stadträtin und DGB-Regionschefin Simone Burger noch so sehr mit der CSU schimpfen, CSU-Bürgermeister Josef Schmid bekommt dennoch Applaus, wenn auch nicht so herzlichen wie SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter. "Vor zwei Jahren habe ich mir in meiner Antrittsrede ein hohes Ziel gesetzt: dass München eine solidarische Stadt, eine Stadt für alle bleiben kann", sagt Reiter. Dieses Ziel zu erreichen, sei nicht einfach, aber er freue sich, dass viele Demonstranten gekommen seien.

Wenn man so will, ist auch die Party zum Abschied des "Bahnwärter Thiels" auf dem Viehhof-Gelände eine große Demo. Nicht mit Transparenten und Parolen. Sondern mit Anteilnahme - und großer Techno-Party. Der Aufbruch ist allgegenwärtig. "Morgen früh um acht beginnt der Abbau", sagt Daniel Hahn, 25, mit vor Schlaflosigkeit rot geränderten Augen. Dann muss er seine Zirkuszelte, den charakteristischen alten Bahnwaggon und den Rest seines Kuriositätenkabinetts wieder einpacken.

Mit dem Kulturhaus hat er sich zumindest für ein paar Monate einen Kindheitstraum erfüllt. Die dazu passende Verspieltheit zeigt sich auch beim ausverkauften "Bahnwärter-Closing-Open-Air". Melancholie hängt in den ersten Stunden des Freiluftfests in der Luft. Die Menge feiert und lacht, aber immer wieder ertappen sich Besucher, wie sie den Blick wehmütig über das Gelände schweifen lassen.

"Ohne das Bahnwärter Thiel fehlt in München was", sagt ein junger Sprayer. Es gebe zu wenig, das eben so sei "wie in Berlin", sagt etwa Stefan, 23. Ein Angebot, wie man es sonst nur in Berlin findet? Das wollte Daniel Hahn eigentlich gar nicht schaffen. Aber "durch die Fläche hatten wir das Gefühl der unbegrenzten Möglichkeiten". Das Gefühl will er sich zurückholen, an einem neuen Ort in München weitermachen. Die Stadt habe zwar jetzt gemerkt, dass in der jungen Szene ein Bedürfnis da ist, es fehle aber trotzdem noch an Freiflächen, die kreativ genutzt werden können. Immerhin für seinen roten Bahnwaggon hat er schon einen Platz: Auf einer Wiese in der Innenstadt wird er ihn als Café betreiben. Irgendwie geht es also weiter.

Wie bei Daniel selbst überwiegt am Ende auch bei allen Gästen der Optimismus und die Feierlust, die sie auch bisher oft ins Bahnwärter Thiel getrieben hat. Auf dem Stempel, der einem am Eingang auf das Handgelenk gedrückt wird, steht "Ende gut, alles gut" - und vielleicht stimmt es ja doch, zumindest für heute.

© SZ vom 02.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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