Die Herzen gewonnen:Münchenson

Lesezeit: 2 min

Immerhin 60 Isländer leben in der Stadt - sie nehmen die Niederlage wie einen Sieg

Von Claudia Koestler

Enttäuschung? Das ist kein Gefühl für echte Wikinger. "Wir haben trotzdem gewonnen", sagt der Isländer Bjarni Magnússon über das Ergebnis seiner Mannschaft bei der Fußball-EM mit einer Mischung aus Trotz und Augenzwinkern. Trotzdem gewonnen, da ist viel dran: Als die Isländer gegen Portugal standhaft blieben und die Briten rauskickten, flogen ihnen europaweit die Herzen zu. Auch an diesem Sonntagabend im Biergarten des Münchner Augustinerkellers, als sie einen Gegentreffer nach dem nächsten kassierten: "Alles trotzdem Íslandsvinir", sagt Bjarni stolz mit Blick in die Runde. Rund 60 Münchner, die sich erklärtermaßen solidarisch zeigten mit weniger als einer Handvoll echter Isländer, die das Spiel dort auf großer Leinwand verfolgten. Selbst wer vor der EM die Insel im Nordatlantik höchstens mit Tiefdruckgebieten gleichsetzte, trug an diesem Abend blau-rot-weiße Herzchen im Gesicht und skandierte mit: "áfram Ísland", zu deutsch: vorwärts Island.

Íslandsvinir, Freunde Islands, ein Schlüsselwort und stete Sehnsucht. Schließlich ist der kleinen Nation mit knapp 330 000 Einwohnern ein enormes Gemeinschaftsgefühl zu eigen - egal wo. "Bei uns ist das so, jeder ist maximal zwei Telefonnummern weit weg", erklärt der in München als Fluglotse arbeitende Sigurvin Finnbjarnason. Doch ausgerechnet München ist islandtechnisch gesehen eher Diaspora. In anderen deutschen Großstädten, vor allem in Küstennähe, gibt es größere Isländervereine, die regelmäßig Feste und Veranstaltungen ausrichten. In der bayerischen Landeshauptstadt aber sind die dort ansässigen Isländer eher ein lose organisierter Haufen von gerade mal 60, Kind und Kegel, Mann und Maus schon mitgezählt. Also braucht es Freunde, um sich wohlzufühlen, und der Erfolg ihrer Nationalmannschaft kam da gerade recht.

Die Mitglieder der kleinen isländischen Gemeinde in München freuen sich über die neue Aufmerksamkeit. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Vergessen durch sie die negativen Schlagzeilen, die das Land jüngst machte: Icesave, Finanzkrise, Panama Papers. Und unerwähnt blieben an diesem Sonntag auch jene Seltsamkeiten, die abschreckend sein könnten für den gemeinen Münchner Biergartengänger: Kein "Hákarl", vergammelter Hai, kein "Svið", angesengter Schafskopf, als Halbzeitsnack. Das mögen zwar tradierte isländische Spezialitäten sein, "doch in Deutschland schwer zu bekommen", lacht Ragnar Finnbogason. Was er nicht sagt: Schnitzel und Weißbier schmecken auch ihnen besser.

Doch man muss keine Klischees heranziehen für Geschichten, die das Land hervorbringt - überall, selbst in München. So weiß Ragnar etwa, dass die Bavaria-Statue von einem Isländer konstruiert wurde. Nicht von Klenze? Na ja, zwinkert er zu, ein Isländer habe sie "ein bisschen mit konstruiert". Genauer gesagt sei es Bertel Thorvaldsen gewesen, halb Däne, halb Isländer. Genauigkeit hin oder her, es macht einfach Spaß, das Inselvölkchen zu mögen.

Enttäuschung gibt es auch, vor allem aber Stolz auf das Erreichte. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Und Ragnar genießt seinen Exotenbonus. Jeder würde ihm als Isländer mit Freude und Neugierde begegnen, sagt er. Nur einmal habe er sich seiner Nationalität geschämt: Als er 2009, nach der Finanzkrise, ein Taxi nahm und der Fahrer zweifelte, ob er genügend Geld dabei habe. Deshalb sei ja nun so wichtig, was die isländischen Fußballspieler geschafft hätten: "Eine Katharsis", sagt Ragnar stolz. Island wieder im positiven Licht glänzen zu lassen, "das tut richtig gut". Früher, da habe tatsächlich auf der Insel die Putzfrau in der heißen Quelle mit dem Präsidenten geplaudert. Inzwischen sei Island aber auch zur Klassengesellschaft geworden. Was die Fußballer nun Europa gezeigt hätten, seien die alten Werte, auf die er als Isländer so stolz ist: das Miteinander, sich auf Augenhöhe zu begegnen, die flachen Hierarchien. Es sei nie ein Spiel gegen andere Spieler gewesen, "sondern Underdog gegen Establishment. Echte Freunde gegen Geldbündnisse."

Ähnlich wohl fühlt sich auch Anna Sigrún Jónsdóttir wieder mit ihrer Staatsbürgerschaft. Ihr Mann sei gerade im isländischen Trikot zur Tankstelle geradelt, da habe ihm der Tankwart glatt das Bier geschenkt. "Vielleicht sollte ich das Trikot von jetzt an beim Shoppen tragen", lacht sie. Ihre Fußballhelden werden sie auf jeden Fall weiter unterstützen, und in München vielleicht das neue Gemeinschaftsgefühl künftig mit weiteren Aktivitäten füllen - auch für all die neuen Íslandsvinir. Die können derweil den wichtigsten Anfeuerungsruf lernen: Áfram Ísland, gesprochen aufram Island.

© SZ vom 05.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: