Der Schichtl:Rauschangriff

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Selten zuvor gab es schon vor dem Start so viele Mutmaßungen über den Verlauf des Oktoberfests. Unser Wiesnkolumnist macht sich in seiner letzten Folge eigene Gedanken über den Wert von Prognosen

Herrschaften aufgemerkt, gleich kommt der große Rauschangriff. Jede Menge und noch ein Haufen Leute mehr geben den Wirten, Schaustellern, Polizisten plus diversen anderen erst den Grund, auf der Wiesn zu sein. Die eine Fraktion ist immer wegen der anderen dort. Da findet sich alljährlich ein Häuflein von nicht mal sieben Millionen Individualisten zur Umsetzung ihrer identischen Absichtserklärung ein. Es ist nicht unbedingt eine intime Veranstaltung in Gedenken an eine Hochzeit von zwei Leuten vor langer Zeit. Namen und Jahr egal, Hochzeit hört sich immer nach Feiern an.

Die Menschen in all ihren multiplen Einstellungen und Ausstattungen, ihrer Ein- und Pseudotracht, vor dem Zapfhahn sind sie alle gleich. Ja, es sind wirklich schöne Trachten zu sehen, eine Freude zum Anschauen, und je weniger Tamtam am Gwand umso besser und authentischer schaut's aus.

Der Trachtenwahn treibt nach wie vor seine schrillsten Blüten hier in diesen zwei Wochen. Das Schaulaufen der Herren, die Pflicht mit der Gemahlin, die Kür dann ohne sie. Es ist ein Schauspiel, was der präpotente Gockel alles anstellt, wenn das Testosteron sein Hirn entmachtet. Zu diesem Speed-Dating tragen die modisch desorientierten Damen Pseudo-Dirndl aus der Chichi-Abteilung, manche glitzernd wie aus Stores zusammengeflickt mit Köderfunktion (kniefrei), gerne mit Boleroblusen (schulterfrei), und früher oder später ist man dann sowieso so frei.

Treuepunkte muss man sich woanders holen. Das ganze Schauspiel alleine ist glatt schon zehn Euro Eintritt wert. So gesehen wäre die erste Mass fast schon geschenkt. Mensch Meier, wär das schlimm, wenn's nix zum Lästern gäbe. Aber was tun, wenn ich ständig visuell derart beliefert werde? Ich beschreib ja nur, was so alles vor mir vorbei und rum läuft.

Zur Wiesn gehört auch unbedingt das Leben in, auf und neben den Fahrgeschäften. Weil: Nur Bierzelte sind kein Volksfest, dann könnte die Veranstaltung gleich Intersuff heißen. Die Mischung macht die einmalige Atmosphäre! Der traditionell-sportliche Vorgang des Schimpfens über den Bierpreis findet ausnahmslos als fest installiertes Ritual zur Wiesn statt. Am Gardasee kostet der Liter schon gut zehn Euro, Richtung Amalfi dann schnell auch mal 15, aber nix mit Bringdienst im Dirndl oder Hendl- und Steckerlfischaroma in der Luft. Und an den Toiletten muss man auch nicht anstehen. Das kann doch nicht gemütlich sein, dort aber wird nicht mal ansatzweise über den Bierpreis geredet.

Mei, wenn das nur alle Probleme wären, die es zur und rund um die Wiesn gibt. Und ja, die Zeiten waren schon mal leichter, die Menschen nie so überinformiert. Klar, wir reden hier von Vergnügen. Wenn wir uns das allerdings nehmen lassen, was kommt uns als nächstes abhanden, wie weit lassen wir uns fremdbestimmen?

Die Wiesn polarisiert, aber die Ferienflieger waren voll wie immer, die Allianz-Arena bei jedem Bayern-Spiel sowieso, die Konzerte von Paul McCartney bis Andreas Gabalier auch. Wenn der Besuch einer Veranstaltung oder eine Reise abgesagt wird, ist das in Ordnung. Auffällig ist, dass nirgends so ein Bohei wie um die Absage eines Wiesnbesuchs gemacht wird. Niemanden ist vorzuwerfen, wenn er nicht hingeht. Ich frag mich nur, warum manche Abstinenzler mit fast schon missionarischem Eifer dies kundtun. Außer reduzierter Lebensfreude kommt wohl kaum was raus.

Wie sagt der bayerische Realphilosoph Manfred S. aus M., 63: "Erfahrene Propheten warten erst mal die Ereignisse ab."

Auf eine pfundige Wiesn!

© SZ vom 16.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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