Zwischennutzung:Die Open-Air-Galerie

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Die Fassade an einem der MD-Fabrik-Gebäude in Dachau lenkt den Blick auf teils herausragende Kunstwerke der Streetart und Graffitikunst

Von Wolfgang Eitler

Ja, genau. Hier ist ein "C", das sich räumlich in ein "E" verschränkt. Es folgt ein "R". Also dieser Buchstabe ist einfach zu erkennen. Glücklicherweise. Ein Gefühl der Erleichterung entsteht, in dem Konvolut endlich etwas entdeckt zu haben und nicht nur auf die Hilfe von Sprayer Adrian Till angewiesen zu sein. Das Mitglied des Dachauer Graffitigruppe Vereins Outer Circle erteilt Nachhilfe im Sehen an der neu gestalteten Wand am MD-Gebäude entlang der Freisinger Straße. Das "O" wiederum ist eher angedeutet und löst sich auf. Diese Buchstabenfolge, die das rätselhafte Wort "Cero" ergibt, wirkt in ihrer Gesamtheit wie eine rasant animalische Figur, die sich in die Höhe schwingt.

Den Bluff mit der Frage, ob es sich um Tags handelt, also ein wiedererkennbares Signum des jeweiligen Sprayers, kontert Till mit einem Lächeln. "Es sind Pieces, keine Tags." Das sind kompliziert und komplex gestaltete Wortbilder, in denen Buchstaben ein dynamisches Eigenleben entwickeln. Manchmal braucht es anscheinend die Hilfe eines Taifuns, der aus einem Dickicht, das einem surrealen Urwald ähnelt, Buchstaben in die Luft schleudert. An dem Punkt ist Adrian Till bei einem Thema, das ihn bewegt. Er will verstehen, wie Schrift entstanden ist und wie womöglich Zeichen aus natürlichen Formen abstrahiert wurden. Dazu liest und studiert er anthropologische Studien.

Das Taifun-Gemälde verbindet die bewegten Wortstrukturen mit den eher durchschnittlich konventionellen Darstellungen eines bewegten Himmels und einer Landschaft, wie man sie aus Ausstellungen von Hobbymalern besser gestaltet kennt. Ähnlich hilflos wirkt die Runen-Landschaft mit Kolibris, die zwar nett bunt sind, aber wie gut gefütterte Spatzen aussehen. Die Anmutung von Leichtigkeit fehlt. Zart ist an diesen Ungetümen nichts.

Adrian Till lacht die Kritik weg. Er ist erst einmal stolz, dass es seiner Gruppe gelungen ist, eine solche Graffiti-Aktion in Dachau zu initiieren. Gemeinsam mit dem Freiraum-Verein, der Künstlervereinigung Dachau, mehreren Galerien, und unterstützt vom Kulturamt, hat Outer Circle es geschafft, die Bevölkerung für diese Kunstform zu begeistern. Passanten, die vergangenes Wochenende vorübergingen, interessierten sich für die Sprayerkunst. Einige spendeten eine Brotzeit. Eine solche Erfahrung kennen viele Graffitikünstler nicht, weil sie früher meist illegal vorgingen, Wände besprühten, S-Bahnen oder Züge. Vor einigen Jahren ist ein Sprayer in der Nähe des Karlsfelder Bahnhofs mit dem Polizeihubschrauber auf der Flucht verfolgt worden.

Die Sprayaktion entlang des MD-Geländes ist legal. Denn die Eigentümer haben mit dem Kulturamt einige Flächen auch in der Ostenstraße freigegeben. Vor ungefähr fünf Jahren hatte Johannes Wirthmüller gemeinsam mit der SZ Dachau das Projekt initiiert. Jetzt führt es die Gruppe Outer Circle weiter, in der Wirthmüller Mitglied ist. Neben ihm sind es noch Christian Reimer, Alto und Johannes Kottmeir, Anton Till, Moritz Bothe und eben Adrian Till. Dass eine Graffiti-Gruppe ihre Namen preisgibt, ist ungewöhnlich. Adrian und Moritz betonen auch, wie sehr diese Offenheit eine Ausnahme darstellt. Denn ein Graffito ist per Definitionem eine Struktur, ein Zeichen, dessen Urheber anonym bleibt. Auf der anderen Seite sind Sprayer mittlerweile offiziell als Künstler anerkannt und in das weiter gefasste Genre der Streetart eingebunden. Eine umfassende Ausstellung im Sommer auf dem Olympiagelände in München dokumentierte die internationale Entwicklung hin zur offiziellen Reputation in der Kunstwelt.

Deswegen sollte die Wand an der Freisinger Straße auf einer Länge von 150 Metern unbedingt als eine Art Open-Air-Galerie besichtigt werden. In dem auf den ersten Blick bildnerischen Chaos schälen sich einzelne Graffito teils beeindruckender Qualität und spannender Assoziationen heraus. Die Augsburger Gruppe Die Bunten mit eben ihren Taifun-Pieces. Oder die Münchner Gruppe SAK, die in einem aggressiv gemalten Comic voller hart aufeinander prallender Lineaturen die eigene Geschichte als illegale Undergroundsprayer erzählt und das Bekenntnis dazu demonstrativ signiert: "SAK 1987-2017".

Pieces beherrschen die gesamte Fläche, wie das "Oracle", das sich aus fein gezeichneten Notenschlüsseln abhebt. In die Streetart-Richtung geht eine wunderbare Arbeit einer Adrian Till unbekannten Augsburgerin. Sie hat in ein grau meliertes Fensterfragment zwei Paare gemalt, eines davon im Gespräch, in einer ersten zart wirkenden Berührung. Diese Künstlerin ist eine der wenigen, die auf den Charakter des Gebäudes reagiert, ihn aufnimmt und neu interpretiert. Man könnte sagen, als einen Freiraum. Ähnlich arbeitet die Gruppe Outer Circle. Aber bevor ihr Wandgemälde beim Flanieren erreicht ist, muss man an einem Abschnitt vorüber, an dem sich noch unerfahrene Sprayer versuchten. Der Kontrast belegt, was für ein Können notwendig ist, um wirklich beeindruckende Pieces zu schaffen.

Daran orientiert sich auch Outer Circle. Aber sie reflektieren Geschichte. Die des Bauhauses in Dessau, indem deren geometrischen Buchstaben als Manifest der Klarheit und Einfachheit zitiert werden. Die Geschichte von MD, indem die Gruppe in der Farbgebung beispielsweise den Rostton des Gebäudes einbindet. Sie entwickelt ein Kalkül aus figurativen Formen, abstrakten Chiffren. Darin integrieren sich vorhandene Elemente wie eine vorgelagerte Metallplatte, die mittels eines kleinen Eingriffs, eines Kreises, zu einem beeindruckenden Beispiel Konkreter Kunst wird. Das Wandgemälde ist zweigeteilt. Im Untergrund brodelt es vor dämonischen Gestalten, so dass ein Gegensatz aus rationalem Schaffen und schwer zu beherrschendem Unterbewussten als Sinnbild entsteht.

Unabhängig davon könnten die beiden Werke der Gruppe Outer Circle und der unbekannten Augsburgerin zu einer künstlerisch-politischen Aneignung des Gebäudes beitragen, wie sie mit dem Museumsprojekt zur Industriegeschichte des Bezirks Oberbayern begonnen hat. Die Diskussion über die vorübergehende Nutzung von MD sollte intensiviert werden. Denn die Industriebrache steht noch lange.

© SZ vom 29.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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