Mitten im Landkreis:Gefährlicher Tunnelblick

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Zahlreiche Autofahrer verschaffen sich morgens an ihrer Frontscheibe nur so viel Durchblick, wie man durch die Schießscharte eines ritterlichen Gemäuers hat

Kolumne von Walter Gierlich

My home is my castle" behaupten die Engländer, obwohl sie nur selten in Burgen wohnen - es sei denn, sie gehören zu den Royals oder sonstigem Hochadel. Überwiegend leben die Briten eher in Reihenhäusern mit sogenannten "bay windows", einer Art Erker, deren Verglasung von den Segnungen moderner Isolierscheiben weit entfernt ist, wie jeder Reisende bestätigen kann, der je im Winter die Insel besucht hat. Die Wohnstätten britischer Normalbürger haben also gar nichts mit den mittelalterlichen Festungen aus dicken Steinmauern zu tun, die statt über ordentliche Fenster lediglich über winzige Schießscharten verfügen.

Der den Engländern zugeschriebene Spruch vom Bollwerk mit Gucklöchern gilt in abgewandelter Form viel mehr für viele Landkreisbewohner, zumindest in der kalten Jahreszeit und wenn sie im Besitz eines Kraftfahrzeugs, aber nicht einer Garage sind. Kalte, neblige Nächte machen aus den am Straßenrand geparkten Wagen Bastionen aus Blech und Eis. Und längst nicht jeder Eigentümer unterwirft sich allmorgendlich der Mühe, die Scheiben rundum freizukratzen und sich freie Sicht wie aus einem englischen "bay window" zu verschaffen. "My car is my castle" könnten stattdessen zahlreiche Autofahrer einem Beobachter am Straßenrand zurufen, die sich an ihrer Frontscheibe lediglich so viel Durchblick verschaffen, wie man durch die Schießscharten eines ritterlichen Gemäuers hat.

Nun mag es ja vielleicht für den Karlsfelder nicht allzu gefährlich sein, frühmorgens halbblind sein Auto durch den Verkehr zu steuern, reicht es ihm doch im Stau und bei maximal Schritttempo auf der Münchner Straße, wenn er die Bremsleuchten des Vordermanns im Blick hat. Ganz anders schaut es da schon für den Berufspendler aus Durchsamsried oder Übelmanna aus, der sich über kurvige, möglicherweise vereiste Landstraßen in Richtung München vorankämpfen muss. Für ihn kann der Tunnelblick noch riskanter werden als für eine politische Partei, die nur ein Thema kennt. Ruft die jahrelang "Obergrenze, Obergrenze!" und hat sonst nichts im Blick, dann gibt's schon mal einen Absturz um elf Prozent.

© SZ vom 12.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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