Christine Wunnicke:Internet und Individuum

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Christine Wunnicke erhält heute den Tukan-Preis für die beste Neuerscheinung eines Münchner Autors. Ihr Roman "Serenity" stellt die Frage, was das Internet mit uns Individuen macht.

S. Gierke

Auf Defensive eingestellt, so sitzt Christine Wunnicke auf dem roten Sofa vor ihrer heißen Schokolade. Die Hände verschränkt auf dem Schoß, den Oberkörper zurückgelehnt, starrt sie auf die Sahne, ohne dabei wirklich etwas anzusehen. Was gewesen wäre, wenn es noch vor dem Buchdruck den Computer gegeben hätte, lautete die Frage an sie. Was hätten die Leute gesagt? Hätten sie eine Verflachung beklagt?

Verweigert sich dem Literaturbetrieb: Die Münchner Autorin Chritine Wunnicke. (Foto: Foto: oh)

Den Verlust der mehrdimensionalen Virtualität zugunsten einer planen Buchseite. Den Verlust der Interaktivität, die soziale Vereinsamung während des Lesens. Christine Wunnicke überlegt nicht lange, lacht kurz, leise prustend, lehnt sich etwas nach vorne. "Könnte sein", sagt sie, und bleibt im Ungefähren.

"Serenity" heißt der Roman, für den Wunnicke heute den Tukan-Preis der bayerischen Landeshauptstadt für die beste belletristische Neuerscheinung eines Münchner Autors erhält. Der Inhalt: Ein Bibliotheksleiter und Philosoph verheddert sich im weltweiten Netz, gibt sich im Internet als junges Mädchen aus, schließt als Serenity Freundschaften, vernachlässigt den Beruf. Das Buch stellt die große Frage: Was macht das Internet mit uns Individuen? Es stellt die Fragen nach der Cyberwirklichkeit, nach sozialem Leben im Internet, nach dem Unterschied zwischen persönlicher Identität und sozialer Rolle. Will man all dies von Christine Wunnicke wissen, erklärt sie schlicht: "Das weiß ich nicht. Das müssen andere entscheiden."

Vorlesen im "Dschungelcamp"

Christine Wunnicke ist eine Schriftstellerin, die ihren Beruf nicht mit dem eines Priesters oder eines Politikers verwechselt. Sogenannte absolute Wahrheiten zu verkünden, widerstrebt ihr. Für die 42-Jährige bedeutet Schreiben auch, den Sinn der Welt zu erschüttern, Fragen in der Welt aufzuwerfen, sich selbst jedoch die Antworten darauf zu verbieten. Die geben die Leser, jeder für sich unter Zuhilfenahme seines Lebens, seiner Erlebnisse.

"Seit ich vier bin schreibe ich. Damals habe ich meiner Mutter eine Geschichte über Trolle diktiert". Wunnicke lächelt. Aus wachen Augen schaut sie ihren Worten hinterher, als traue sie ihnen nicht ganz, als wolle sie das Gesagte noch einmal von allen Seite betrachten, bevor es andere hören dürfen. Man spürt: Sie spricht nicht gerne über ihre Arbeit. Sie schreibt lieber. Schreiben ist für sie Freiheit und Sicherheit zugleich.

Als einmal ein russischer Schriftsteller gefragt wurde, warum er denn weine, sagte er: "Mir ist gerade mein Hauptdarsteller gestorben, das hatte ich gar nicht vor." Christine Wunnickes Protagonisten entwickeln ein ähnliches Eigenleben: "Ich weiß nicht, was der Schluss meines Buches soll. Ich weiß nicht, wer da was warum tut," erklärt sie.

"Serenity" ist ihr fünfter Roman, für den Rundfunk hat sie viele Hörspiele und Features gemacht. Richtig angekommen im Literaturbetrieb ist sie, trotz vieler Preise und Ehrungen, aber dennoch nie. Auch die allgemeine Anerkennung blieb ihr bisher verwehrt. Das liegt sicherlich auch an ihrer Zurückhaltung, ihrer Weigerung, als literarische Ich-AG zu agieren. Das Vorlesen beim Bachmann-Preis in Klagenfurt hat schon viele junge Literaten bekannt gemacht. Wunnicke nennt es "das Dschungelcamp". Einmal war sie eingeladen. Sie richtet sich jetzt ein wenig auf, ballt die rechte Faust: "Ich würde lieber aufhören zu schreiben, als dahin zu gehen."

Der andere Grund: Die Münchnerin verweigert sich dem Zeitgeist, ihre Stoffe sind fern gängiger Sujets und weisen, oberflächlich betrachtet, wenig Gemeinsamkeiten auf: Sie beschäftigte sich mit Pop und mit Kastraten, schrieb einen märchenhaften Historienroman oder Punk-Hörspiele. Oder sie schreibt Gespenstergeschichten. Auch Serenity, die eigentlich nur als erdachte Figur im Internet existiert, ist so ein Geist. "Ich langweile mich schnell, deshalb schreibe ich immer so viel Verschiedenes", sagt sie. Ihre Texte verraten viel über ihre Autorin, verraten, dass Wunnicke ihre Geschichten zwischen sich und die sogenannte Realität stellt.

Glauben an Ideale

Dieser Rückzug in andere Welten, die Verfremdung, das ist keine Masche, sie kann kaum anders. Selbst im Gespräch hat man das Gefühl, dass sie plötzlich verschwunden sein könnte. Weg, einfach so. Diese Zurückgenommenheit, diese Scheu wirkt in Zeiten, in denen sich viele Schriftsteller ständig an der optimalen Selbstpräsentation abarbeiten, anachronistisch.

Doch nur durch diese Distanz findet sie die Ruhe, ihre Welt so zu formulieren, dass sie einem gleichzeitig fremd und vertraut, ganz nah und doch unerreichbar vorkommt, utopisch und konkret. Und noch ein Anachronismus: Wunnicke glaubt an humanistische Ideale. Daran zum Beispiel, dass das Internet die Menschen doch zusammenbringen kann, dass die Technik das Potential hat, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, wenigstens im Kleinen.

In diesem altmodischen Denken liegt viel von der Qualität der Bücher von Christine Wunnicke begründet. Denn wer sich stets auf der Höhe der Zeit befindet, ist immer auch angepasst. Wunnicke hingegen gewährt dem Leser eine unerwartete Sicht auf die Dinge, die Entdeckung einer neuen Welt, die man irgendwoher schon zu kennen glaubt.

Preisverleihung mit Lesung: Donnerstag, 20 Uhr, Literaturhaus

© SZ vom 11.12.2008/af - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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