Chinesische Perspektive:Luft nach oben

Lesezeit: 2 min

7000 Obikes in München. Lächerlich. In Peking wurden in wenigen Monaten 2,4 Millionen aufgestellt

Von Kai Strittmatter

Der Münchner und der Pekinger. Mögen beide das Bier und den Grant und doch könnte ich sie auf Anhieb auseinanderhalten. Weil, der Münchner ist doch von enormer Erregungsbereitschaft.

Kennen Sie Klaus Eberl? Ich auch nicht. Beziehungsweise nur aus der Zeitung. Ich lebe in Peking, und neulich schickte mir einer den Link zur Geschichte eines Münchner Boulevardblatts. Klaus Eberl, 71, so las ich dort, "ärgert sich über die Leihradl-Massen vor seiner Haustür". In München herrsche gerade "Leihradl-Wahnsinn". "Es ist ein Saustall!", brüllt die Überschrift, und darunter sieht man auf einem Foto den Mann, wie er sich mit anklagender Miene hinter genau zehn silber-gelben Rädern aufgebaut hat, die da schnurgerade in Reih und Glied stehen. Ein Saustall ist auf den ersten Blick nur schwer auszumachen, da braucht es wahrscheinlich den geübten Münchner Rentnerblick, obwohl, Radl Nummer neun streckt den Hintern ein wenig raus.

Aber Moment, die Massen. "Vor allem die Massen ärgern den Rentner gewaltig", heißt es. Der "Radl-Verhau". Beziehungsweise, "die gelbe Flut". Also die "7000 (!) Drahtesel" der Firma Obike aus Singapur. Siebentausend (!). Kann man sich gar nicht vorstellen, oder? Doch. Ich schon. Wenn ich lese, dass "Anwohnerin Maria E." in ihrer Straße in atemloser Entrüstung 18 Räder gezählt hat, dann ist mein erster Gedanke: Süß. 18 Räder. Die pflücke ich in Peking jeden Morgen aus dem Rahmen unserer Haustür. 7000? Die regnet es in unserer Gasse in einer Nacht. Wenn meine Kinder morgens auf dem Weg zur Schule den sich Nacht für Nacht neu auftürmenden Leihradl-Berg erklommen haben, dann bietet sich ihnen von ganz oben ein majestätischer Anblick: Peking, unsere Stadt, ist ein einziger Ozean von Leihrädern, schillernd in allen Farben des Regenbogens.

Wir Pekinger sind amtierende Leihradl-Weltrekordhalter. Als ich im April für die SZ meine erste Geschichte zu dem Phänomen schrieb, da hatten wir 400 000 von den Dingern in der Stadt. Jetzt, fünf Monate später, sind es schon 2,4 Millionen. 2 400 000. Leihräder. In Peking. Schnappatmung bei 7000 Rädern, das geht wahrscheinlich nur aus einem Leben eingebettet ins Münchner Wohlsein heraus. Der Pekinger nimmt seine Millionen doch erstaunlich gelassen. Schimpft ein wenig. Über die "Heuschreckenplage". Über die 15 Firmen, die sich mit ihren Rädern auf öffentlichem Raum eine skrupellose Start-up-Schlacht liefern. Bei alledem aber freut er sich auch, über die Rückkehr des Fahrrads in die Stadt. War ja schon mausetot und an die Autoindustrie verfüttert, die einst so stolze Radlernation China. Jetzt aber! Beißen wieder zurück, die Radler. Ha! Und überhaupt: Wer überschwemmt und vergiftet und erstickt die Stadt hier eigentlich?

Die Stadtregierung von Peking hat letzte Woche nun gesagt: Es reicht! 2,4 Millionen sind genug. Stimmt ja auch. Chinas Radlfirmen gucken sich derweil im Ausland um. In Seattle, Manchester und Wien sind sie schon. Ich schätze mal, wenn die sich München anschauen, haben sie vor allem einen Gedanken: Da ist noch Luft nach oben.

© SZ vom 16.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: