Buchbesprechung:Oft spielerisch

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Karl Stankiewitz' Buch über die Revolte in München

Von Wolfgang Görl

In Januar 1968 kursiert in München ein Flugblatt, auf dem zu lesen ist: "München, einst Hitlers 'Hauptstadt der Bewegung', ist der Ausgangspunkt einer kraftvollen, überparteilichen Gegenbewegung aller wahren Demokraten." Die Autoren warnen vor Restauration und wiederaufkeimendem Rechtsradikalismus, auch gegen die von der Bundesregierung geplanten Notstandsgesetze, die eine im Grundgesetz verankerte Notstandsverfassung vorsehen, beziehen sie Stellung.

Hinter dem Flugblatt steht die "Demokratische Aktion", die eine breite Kampagne im gesamten Bundesgebiet initiieren will. Zu den mehr als 150 Unterzeichnern gehören Politiker von SPD und FDP, Schriftsteller wie Heinrich Böll, Bernt Engelmann, Gerhard Zwerenz oder Günther Weisenborn, der Physik-Nobelpreisträger Max Born, die Verleger Kurt Desch, Gerhard Szczesny und Rolf Heyne.

Am 31. Januar, dem 35. Jahrestag der "Machtergreifung" Hitlers, veranstaltet die Demokratische Aktion im Kongresssaal des Deutschen Museums eine Kundgebung gegen rechts, bei der die Kabarettisten Ursula Herking und Dieter Hildebrandt sowie die Schauspieler Paul Dahlke, Hans Clarin und Siegfried Lowitz Texte von Brecht und Tucholsky rezitieren. Doch nicht nur Antifaschisten sind auf die Isarinsel gekommen, auch rund 300 Anhänger der NPD sind zugegen und versuchen, die Vorträge mit Sprechchören zu stören. Es kommt zu Rangeleien mit den Saalordnern. Ein 57 Jahre alter Rentner bricht zusammen und stirbt im Krankenhaus an Herzschlag. Es sind also keineswegs nur Studenten, die 1968 in Opposition zur herrschenden Politik gehen.

Nachzulesen ist das Ereignis in Karl Stankiewitz' Buch "München 68 - Traumstadt in Bewegung". Es ist soeben im Volk-Verlag erschienen, als Wiederauflage eines Werks aus dem Jahr 2008. Der Journalist Karl Stankiewitz, der seinerzeit als München-Korrespondent diverser Zeitungen unterwegs war, ist ein guter Gewährsmann, wenn es darum geht, einen Überblick über die damaligen Ereignisse zu gewinnen. Seine Schilderungen der Tagesereignisse vertieft er mit Hintergrundwissen und Rechercheergebnissen.

Eine wissenschaftliche Analyse der Bewegung darf der Leser nicht erwarten. Stankiewitz zieht aber insofern eine Metaebene ein, als er - für die Erstausgabe 2008 - einige der Akteure von 1968 gebeten hat, eine rückblickende Bewertung zu liefern. So schreibt etwa der mittlerweile verstorbene Regisseur Thomas Schmitz-Bender, der damals wegen eines Sprühdosen-Protests gegen die griechische Militärdiktatur zu acht Monaten Gefängnis verurteilt wurde: "Was von 1968 geblieben ist? Dass einige erfahren haben, wie man eine Revolution macht, und wie man dabei bei sich Fähigkeiten entstehen sieht, die man zuvor nicht hatte. ( ... ) Das sind Erfahrungen, die nicht auszulöschen sind, auch wenn dieser revolutionäre Anlauf keinen Erfolg haben konnte und das, was er vielleicht erreichte, spätestens durch die Annexion der DDR und ein neues Groß-Deutschland zunichte wurde."

Wer Stankiewitz' Reportagen und Features liest, wird, sofern er die APO-Zeit nicht selbst erlebt hat, überrascht sein, wie vielschichtig die Revolte in München war. Davon berührt war nicht allein die Sphäre der Politik, der Wind des Wandels wehte auch durch Theater, Konzertsäle, Künstlerateliers, Kirchen, Schulen, ja selbst durch die Modebranche. Das "antiteater" des jungen Rainer Werner Fassbinder gehört da ebenso dazu wie die Kinoexperimente der Jungfilmer oder das politische Kabarett, das Reiner Uthoff in seinem "Rationaltheater" bot.

Eines fällt bei der Lektüre auf: In München geschah die Politisierung fast sämtlicher gesellschaftlicher Bereiche bei aller Härte, mit der die CSU um Franz Josef Strauß, Polizei oder Justiz zurückschlugen, nicht selten mit einem Anflug von spielerischem Unernst, der in satirischen Aktionen der Spaßguerilla waberte. Wegweisend war der gern aus Berlin anreisende Kommunarde Fritz Teufel, ein zotteliger Bürgerschreck, über den Stankiewitz schreibt: "Wenn der Ruf 'Da Teifi is do' durch Schwabing rumorte, dann standen turbulente Tage und Nächte bevor."

Doch war das, was in München 1968 lief, weit mehr als nur Klamauk. Für Stankiewitz' Buch schreibt der damalige Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel: "Vor allem gab es in der jungen Generation einen starken Politisierungsschub. Es gab eine unglaubliche Bereitschaft, sich zu engagieren, sich persönlich zu äußern und für oder gegen etwas zu demonstrieren. Das war bis dahin nicht selbstverständlich."

Verdienstvoll ist, dass Stankiewitz auch an die Schicksale einiger der Münchner Protagonisten der Revolte erinnert. Wie Rolf Pohle, LMU-Asta-Vorsitzender, der später in den Untergrund ging, Reiner Jendis, SDS-Aktivist, und Siegfried Graue, Arbeiter und Spaß-Guerillero. Dieser wurde wegen eines Sitzstreiks im Amerikahaus zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, woraufhin seine Genossen die Stadelheimer Straße durch ein Schild in "Sigi-Graue-Straße" umtauften. Er wirkte später in Alexander Kluges Spielfilm "Artisten in der Zirkuskuppel - ratlos" und in anderen Filmprojekten mit und starb 1976 an Nierenversagen.

Karl Stankiewitz: München 68 - Traumstadt in Bewegung. Volk-Verlag, 224 Seiten, 14,90 Euro.

© SZ vom 14.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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