Buch über Columbine:Grausame Ähnlichkeiten

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Der Münchner Autor Joachim Gärtner hat das Columbine-Attentat minutiös rekonstruiert - und stellte das Buch ausgerechnet zwei Tage vor Winnenden vor.

Susanne Weinhart

Welch makabrer Zufall, mag man denken: Zwei Tage vor dem Amoklauf des 17-jährigen Tim K. in der Albertville-Realschule des baden-württembergischen Winnenden erscheint ein Buch, das das Massaker an der Columbine High School im amerikanischen Littleton vor knapp zehn Jahren minutiös rekonstruiert. Am 20. April 1999 erschossen die beiden Schüler Dylan Klebold und Eric Harris dreizehn Menschen und verwundeten einundzwanzig. Der dokumentarische Roman des Münchner Fernseh- und Hörspielautors Joachim Gärtner "Ich bin voller Hass - und das liebe ich" (demnächst im Eichborn Verlag) collagiert Tagebuchaufzeichnungen, Chat-Protokolle, Videotranskriptionen, Hasstiraden, Liebesbriefe und Schulaufsätze der beiden Täter zu einer eindringlichen Montage.

Columbine 1999 war einer der wenigen Schul-Amokläufe mit zwei Attentätern. (Foto: Foto: AP)

SZ: Eric Harris, einer der Columbine-Attentäter, bekundete in einem Tape neun Tage vor der Tat: "Es gibt nichts, was ihr hättet tun können, um das zu verhindern." Behauptet Ihr Buch mit seiner Fülle an Zeugnissen das Gegenteil?

Joachim Gärtner: Wenn man diese Texte gefunden hätte, hätte das sicher eine Reaktion evoziert. Was die bewirkt hätte, steht auf einem anderen Blatt. Grundsätzlich ist es extrem schwierig, so etwas zu merken, wie man gerade bei Tim K. sieht. Das sind Leute, an die man nicht rankommt, Außenseiter, die sich mit ihrem Außenseitertum identifizieren, mit ihrer Weltsicht: Die Welt ist böse, die Welt schließt sie aus, die Welt demütigt sie, Menschen, deren Ohnmacht in Machtphantasien umschlägt.

Das andere ist die schwierige Entscheidung, zu sagen, wer überhaupt zu einem Amoklauf fähig ist. Es gibt ja viele Schüler, die brutale Videos drehen. Wenn dann der Lehrer sagt: Das ist aber komisch, was ihr da gedreht habt, und die Schüler sagen: Das ist rein fiktiv, was macht man dann? Es wird immer ein Restrisiko, eine Hilflosigkeit bleiben.

SZ: Wie kamen Sie zur Beschäftigung mit dem Columbine-Attentat?

Gärtner: Ursprünglich wollte ich eine Fernsehdokumentation über das Thema machen, aber als ich dann Dokumente vom zuständigen Sheriff's Office bekam, über 25.000 Seiten ungeordnetes, teils handschriftliches Material, hatte ich den Eindruck, mich auf andere, nicht bildliche Weise damit beschäftigen zu müssen. Mich haben weniger die Gewalt-und Hasstiraden überrascht, die waren ja zu erwarten, sondern die Zeugnisse eines ganz normalen Lebens, wie etwa unabgeschickte Liebesbriefe, und ihre Distanz zu dieser schrecklichen Tat. Das hat mich fasziniert. Auch, diese Distanz bewusst offen zu lassen, dass der Leser die Verbindung zwischen diesen beiden Welten selbst herstellen muss.

SZ: Sowohl Tim als auch Eric Harris haben zum Beispiel Schulaufsätze zum Thema Waffen geschrieben. Kann man schon von Ähnlichkeiten der Persönlichkeitsprofile sprechen?

Gärtner: Über Tim weiß man noch zu wenig. Man weiß, dass er als sehr unauffällig beschrieben wird, dass er sich eine doppelte Identität aufgebaut hatte, was auch für beide Columbine-Attentäter zutrifft. Dass sie alle drei eine Phantasiewelt entwarfen, von der weder Eltern, Geschwister, Mitschüler oder Lehrer die leiseste Ahnung hatten. Und wie massiv und suggestiv diese Welt aus Hass- und Rachephantasien gewesen sein muss, in die sie sich reingesteigert haben - obwohl sie gleichzeitig ihre Widersprüche gesehen haben.

Eric Harris hat zum Beispiel in Briefen gefordert, dass alle Lügner und Rassisten erschossen werden, gleichzeitig aber selbst bekannt, Lügner und Rassist zu sein. Sie waren intelligent genug, zu merken, was da mit ihnen passiert, mit ihren aus Popmedien zusammengeborgten Phantasien. Gleichzeitig war die Aussicht faszinierend, etwas zu tun, was die Welt wahrnehmen muss. Der psychische Druck war offenbar so groß, dass ihnen Erkenntnis nicht mehr geholfen hat.

SZ: Columbine war einer der wenigen Schul-Amokläufe mit zwei Attentätern. Verursacht Gruppendynamik einen höheren Grad an Fatalismus?

Ursprünglich wollte er eine Fernsehdokumentation über das Thema machen, dann wurde es ein Buch: Joachim Gärtner (Foto: Foto: Eichborn Verlag/oh)

Gärtner: Mit Sicherheit. Die beiden haben sich sehr gut ergänzt. Eric war der knallharte Psychopath, der keine Skrupel kannte und sich auch nicht in andere einfühlen wollte. Dylan war eher der melancholische Depressive, der - nimmt man zumindest an - sowieso Selbstmord begangen hätte. Ich kann mir gut vorstellen, dass es da eine enorme Dynamik gab gegen Ende hin. Dass jeder für sich gar nicht mehr die Möglichkeit hatte zu sagen: Das ist vielleicht doch nicht ganz das Richtige, was wir hier machen.

SZ: Was hat Sie am meisten bewegt?

Gärtner: Ohne Frage die sehr detaillierte Beschreibung der Tat: Wie sie vorgehen werden, wie sie angezogen sind, wie sie Leute erschießen. Dann ihre abschließenden Worte: "Wenn wir wider Erwarten überleben, werden wir ein Flugzeug kapern und es über New York City abstürzen lassen." Knapp drei Jahre vor dem 11. September 2001 - das sind schon Visionen, die unter die Haut gehen.

SZ: Es gibt viele Verweise auf Gewaltfilme und Computerspiele. Gleichzeitig scheinen die Täter intelligent genug, den fiktionalen Charakter der Gewaltszenerien zu durchschauen. Was sagt uns das?

Gärtner: Die Frage gehört für mich zu den wichtigsten, ohne dass ich konkrete Schlussfolgerungen ziehen könnte. Welche Rolle spielt in diesem grausamen Kontext Kultur oder Fiktion? Fiktion gilt ja oft als Ausleben innerer Konflikte, das dann auch von diesen Konflikten befreit. In diesem Fall war es nicht so. Stattdessen haben sie sich an ihrer Terminatorenrolle aufgegeilt. Es hat mir zu denken gegeben, dass Kultur auch dazu geeignet ist, derart zu fanatisieren.

SZ: Die Attentäter wollten, dass ihr Amoklauf von Quentin Tarantino verfilmt wird, nannten die Operation 'NBK' nach Oliver Stones "Natural Born Killers". Beteiligt man sich als Autor eines solchen Buches nicht auch daran, Amokläufer zu neuen Popstars zu erheben?

Gärtner: Das ist ein Zwiespalt, den man nicht auflösen kann. Ich habe mir die Frage auch gestellt. Wenn man ansatzweise versuchen will, zu verstehen, was in den Leuten vorgeht, muss man sich damit auseinandersetzen. Ich habe versucht, es nicht voyeuristisch zu machen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass einer das Buch liest und sagt: Super, was die da gemacht haben. Aber wer weiß. Oliver Stone hat wohl auch nicht gedacht, dass sein Film mal eine Vorlage abgeben könnte. Es muss wohl ein großes Rachebedürfnis da sein, und dann sucht man sich aus den entsprechenden Quellen seine Bilder.

© SZ vom 25.03.2009/sonn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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