Bildung für Burkina Faso:Visionen statt Fakten

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Reinhard Gorenflos arbeitete als Manager, bis er sich entschloss, der Gesellschaft etwas zurückzugeben: mit der Stiftung Tuares

Von Nicole Graner, München

Der rote Sand in Ouagadougou. Er hinterlässt Spuren. Auf Schuhen, Kleidung und in den Augen - wenn der Wind im Februar und März durch die Straßen fegt. Und wenn Regen ihn im Juni manchmal zu roten, kleinen Flüssen werden lässt. Und da war die einzige lange Asphaltstraße in Burkina Faso. Menschen mit einer anderen Hautfarbe und Kinder mit Hungerbäuchen. Alles Bilder, die Reinhard Gorenflos nicht vergessen kann. Bilder, die wie ein Film an ihm vorüberziehen, wenn er nur daran denkt, wie er das erste Mal in seinem Leben den Boden von Burkina Faso betreten hat. Da war er sieben Jahre alt.

Kindheitserinnerungen - von ihnen spricht er so, als wären sie noch ganz nah. Wie ein Film? "Na ja, das ist eine Übertreibung. Aber ich sehe alles noch so deutlich vor mir", sagt der heute 56-Jährige. Und er erinnert sich weiter. Mit einer Innigkeit und einem Blick, der spürbar werden lässt, dass das Erlebte von einst für ihn nicht nur Vergangenheit ist, sondern auch das Jetzt. Gorenflos, geboren 1961 in Bangkok, ist Gründer der Stiftung "Tuares", die sich seit 2012 für Mädchenbildung in Ouagadougou engagiert, Schülerinnen fördert und sie finanziell, materiell und psychologisch unterstützt.

Zurück zum roten Sand, zum Anfang, wenn man so will. Mit seiner Familie kommt Gorenflos 1968 nach Ouagadougou - da war die damalige Republik Obervolta gerade erst einmal acht Jahre unabhängig. Sein Vater ist deutscher Botschafter. Die Familie wohnt zunächst in einem Hotel, später in einem Haus, das noch heute steht. Er geht auf die französische Schule, ist in seiner Klasse der einzige Deutsche und lernt etwas über die Gallier und die Flüsse Frankreichs. "Heute ist das zum Glück nicht mehr so. Endlich lernt man mal etwas über die sechs Nachbarstaaten von Burkina Faso", sagt der Stiftungsgründer. Er seufzt ein bisschen. Weil es lang dauert in Afrika, bis sich Dinge verändern. Viel zu lange.

Junge Frauen mobil machen: Über die Stiftung bekommen die Schülerinnen auch Fahrräder. Wichtig, um in Gegenden ohne öffentliche Transportmittel den Schulweg zurücklegen zu können. (Foto: Cassiane Cladis)

Gorenflos spielt mit den Kindern seiner Klasse. Er erinnert sich daran, wie er eines Tages mit den Kameraden die Temperatur draußen misst - und mit ihnen stolz ist, dass es ausnahmsweise mal nur 27 Grad sind. Gorenflos lächelt still in sich hinein, scheint in Gedanken diesem Augenblick noch einmal nachzuspüren. Am stärksten aber prägt ihn als kleiner Junge die Erkenntnis, was arm und reich wirklich bedeuten, "was Armut", wie er sagt, "für Auswirkungen hat". Auswirkungen auf die Bildung, die Fähigkeit, "nein" zu sagen, die Selbständigkeit und den freien Willen.

Drei Jahre bleibt die Familie in Afrika. Dann geht es zurück nach Deutschland. Mit jenen Bildern im Herzen, die ihn heute noch tragen und Motivation sind zu helfen. 1980 macht Reinhard Gorenflos das Abitur in Bonn, studiert in Freiburg und Paris Volkswirtschaft und Geschichte. Er hängt ein Aufbaustudiengang in Harvard an und geht schnell seinen Weg: als Manager bei Thyssen, als Finanzvorstand von Aral und als Partner der Private Equity Gesellschaft Kohlberg Kravis Roberts in London. Zwölf Jahre lebt er in der Stadt an der Themse. Es ist eine Zeit der Zahlen, der klaren Analyse. Die Zeit, in der Fakten im Vordergrund stehen und weniger Visionen. Doch dann verschieben sich plötzlich die Gedanken. Aus dem einst jugendlichen Wunsch des Managers, die Welt grundlegend verändern zu wollen, wird der konkrete Wunsch, Menschen zu helfen. Die Schwerpunkte verschieben sich, wohl auch deshalb, weil Afrika Reinhard Gorenflos nie losgelassen hat. Und weil Stillstand ein Wort ist, das er nicht gerne akzeptiert. "Man muss wach bleiben", sagt er, "stets neue Dinge sehen." Und er entschließt sich, der großen Wirtschaft im Alter von 51 Jahren den Rücken zu kehren. Weil er, wie er einmal in einem Interview sagt, der Gesellschaft etwas zurückgeben will. Dass er es auch finanziell kann, ist natürlich ein großes Glück. Doch über Geld spricht Gorenflos nicht viel. Nicht mehr.

"Ich wollte meine Erfahrung in etwas Neues einbringen", sagt er. "Für etwas ganz Naheliegendes", könnte man ergänzen. Für Afrika. Mutig ist seine Entscheidung. Nicht viele können am Höhepunkt der Karriere loslassen, können das Gefühl von Sicherheit gegen etwas Unwägbares eintauschen. Nach langen Überlegungen, Recherchen, Gesprächen mit erfahrenen Organisationen in Afrika ist ihm klar: Er will im Land seiner Kindheitserinnerungen etwas für Bildung von Mädchen und Frauen tun, dagegen steuern, dass die Armen den Mächtigen ausgesetzt sind. Er gründet Tuares.

Die Stiftung "Tuares" unterstützt diese Mädchen in Burkina Faso, beispielsweise indem sie Schulkosten übernimmt. (Foto: Cassiane Cladis)

"Nam tua res agitur, paries cum proximus ardet." Das Zitat aus den Epistulae des römischen Dichters Horaz, das der Stiftung den Namen gibt und zum Leitsatz wird, bringt es für den Stifter und Liebhaber von Poesie und Literatur genau auf den Punkt. Tua res agitur - es geht um Deine Sache, und erst recht dann, "wenn das Haus des Nachbarn brennt". Ganz frei übersetzt: Mach dich auf, bilde dich, gehe deinen Weg und übernehme Verantwortung für das, was du tust, auch für deinen Mitmenschen. Gorenflos ist überzeugt: "Man kann niemandem helfen, der nicht auch ein Stück Selbstverantwortung trägt."

Die Mädchen sind in Burkina Faso schlechter gestellt als Jungen, haben kaum Rechte. "Ein Mädchen, das in Burkina Faso arm ist, hat keinen Anwalt", sagt der Gründer. Auf die Schule gehen viele Mädchen nicht. Zu früh, oft schon im Alter von zwölf Jahren, werden sie zwangsverheiratet und schnell schwanger. Der Ehemann stirbt, die Mädchen sind alleine auf sich gestellt. Mit einem Kind. Ohne Schulausbildung. Die Kinder dieser Kinder werden später das Gleiche erleben. Diesen Kreislauf zu unterbrechen, ist ein Ziel von Tuares.

Mit fünf Schulen arbeitet die Stiftung zusammen, sucht die Mädchen aus, die die wenigsten Chancen haben, und übernimmt die Schulkosten. Man unterstützt die Familien der Mädchen, spricht mit den Dorfältesten. Die Schüler bekommen ein Fahrrad, Schulmaterial, Essen und - ganz wichtig - Solarlampen. Damit sie auch im Dunklen Hausaufgaben machen können, zu oft fällt der Strom aus in Ouagadougou. Die Mädchen lernen Englisch, kochen, nähen. Sie machen Seife selbst und bekommen IT-Einführungskurse. Denn immer mehr sind auch in Burkina Faso Computerkenntnisse gefragt. Es gibt Nachhilfeunterricht in den Kernfächern. Ein Erfolgsprogramm, das sich in der Stadt, wie Gorenflos sagt, schon herumgesprochen habe. Und in Sommercamps haben die jungen Frauen auch einfach mal nur Zeit für sich. Dürfen sich entfalten, ihren Talenten nachspüren und Emotionen zeigen: schreiben Gedichte, spielen Theater, tanzen.

"Ein Mädchen, das in Burkina Faso arm ist, hat keinen Anwalt", sagt Reinhard Gorenflos. (Foto: Robert Haas)

Und nach der Schulzeit? Was bleibt dann? Dann hilft Tuares ausgewählten Mädchen, eine Berufsaubildung zur Lehrerin, Friseurin, Schneiderin oder Krankenschwester zu beginnen. Dann erzählen Frauen, die einst Schüler waren - einige sind jetzt Lehrerinnen bei der Stiftung -, was Bildung bewirkt. Und manche wagen sogar mit Hilfe von Tuares den Schritt an die Universität. Die Frauen dieser neuen Generation werden sich mit großer Sicherheit bemühen, ihre Kinder in die Schule gehen zu lassen. Der Kreislauf ist unterbrochen.

Ein großes, rotes Samtsofa steht im Gang des Tuares-Büros in Schwabing mit seinen vier Mitarbeitern. Für ein Foto würde sich Reinhard Gorenflos, der leise, aber klar und sehr strukturiert von seinen Visionen spricht, nie auf ihm niederlassen. Viel zu präsent, würde er sagen. Viel zu sehr im Mittelpunkt. Da sieht sich der Mann, der so gerne Gedichte liest, Vater von zwei erwachsenen Töchtern ist und im Garten seines Hauses mit seinem jüngsten Sohn immer wieder Fußball spielt, nicht. Er will nur im Kleinen - und da lacht Gorenflos - die "Welt verändern". Da ist sie wieder, seine Vision aus seiner Jugend.

Fünf Jahre gibt es Tuares nun. Zeit, mit allen, die die Vision von Reinhard Gorenflos teilen, die mitarbeiten oder spenden, am 23. November zu feiern. Zeit, inne zu halten. Ohne seine Frau, seine Kinder, seine Freunde, ohne viele Reisen und Bergbesteigungen hätte er vielleicht nicht immer die Kraft gehabt, sagt Gorenflos. Und fügt hinzu: "Ich weiß aber, dass mir diese Zeit nur einmal gegeben ist. Und diese Chance will ich nicht verspielen." Lyrikerin Hilde Domin drückt es in ihrem Gedicht "Die schwersten Wege" so aus: " Aber stehen bleiben und sich umdrehn hilft nicht. (. . .) Und doch, wenn du lange gegangen bist, bleibt das Wunder nicht aus, weil das Wunder immer geschieht." Ein kleines Wunder beginnt in "Ouaga", wie die Hauptstadt von Burkina Faso liebevoll abgekürzt wird, bereits zu wirken. Denn 9202 Schülerinnen hat Tuares bisher gefördert. Fast 100 Prozent der Mädchen bleiben an der Schule. Und im Vergleich zu nicht von Tuares geförderten Mädchen schneiden die Schülerinnen um 13 bis 17 Prozentpunkte besser ab.

Vier- bis fünfmal im Jahr reist Gorenflos nach Afrika. Erlebt vor Ort Fortschritte und Rückschläge. Freut sich mit den Schülerinnen über Erfolge und sucht unermüdlich mit seinem 13-köpfigen Team vor Ort nach neuen Wegen, nach Möglichkeiten, Bildung in Burkina Faso auf eine breite Basis zu stellen, vielleicht sogar etwas zu verändern in den Köpfen der Politik. Und am Ende eines langen, heißen Tages, ist es der rote Sand Ouagadougous an seinen Schuhen, der neue Spuren hinterlässt. Damit er wiederkommt.

© SZ vom 22.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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