Bankgeheimnis:Spurensuche im Westend

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Auf dem Straßenschild steht Kiliansplatz, aber nirgendwo ist ein Platz zu sehen. Selbst die Anwohner sind ratlos

Von Philipp Crone, Kiliansplatz / Schwanthalerhöhe

Da steht das Schild Kiliansplatz direkt am Eck, und nirgendwo ist ein Platz zu sehen. Klar, nebenan liegt in der Nachmittagssonne der Gollierplatz in epischer Fußballfeldlänge, aber gleich nebenan, wo laut Stadtplan der Kilian seinen Platz haben sollte: nichts. Einmal an der Kirche entlang könnte man suchen, vom Gollierplatz vorbei an den Wohnhäusern rechts und an der Kirche links, wo zwei Handwerker einen Nebeneingang mit Holzbrettern abriegeln.

Vorne am Ende des Weges, der wie ein Platz heißt, ist schon die Kazmairstraße und die Kreuzung mit dem Gardinengeschäft. Vielleicht wissen die Geigenbauer in ihrer Werkstatt an der Kazmairstraße 58 ja mehr. Irina Feichtl, 38, steht in der Tür und schaut sich um. Die Bogenbauerin findet auch keinen Platz. Alles andere kann sie gut benennen. Gegenüber die Grundschule neben der Kirche, und natürlich die feinen Gegenstände in ihrem Laden, den sie zusammen mit ihrem Partner führt. Nicolas Gooch, Geigenbauer aus England, baut die Klangkörper, die Feichtls Bögen dann zum Klingen bringen. Was für eine Seltenheit, ein Geigenbauer, ein Handwerker, in München. Von wegen. "Hier gibt es sicher um die 40 Geigenbauer", sagt Gooch. Das seien zu viele. Aber in einer Stadt mit vier Orchestern würde das schon gehen. Aber wo ist jetzt der Platz?

Der Kiliansplatz wurde im Jahr 1899 nach dem heiligen Kilian benannt. Hier arbeitet Irina Feichtl. (Foto: Robert Haas)

Auf einer Bank am Gollierplatz sitzt eine alte Frau und schaut den Arbeitern beim Pausemachen zu. Die wiederum sehen einem Endfünfziger im Schatten bei dessen Rücken- und Dehn-Übungen zu. Er greift sich mit dem rechten Arm über die Schulter an den Rücken, mit dem linken unter der Schulter und bekommt beide Hände zu fassen. Die Handwerker probieren es, zwei Jungs ebenfalls, die einen leicht platten Fußball durch den von der Baustelle staubigen Platz vorbeikicken. Die Frau auf der Bank sagt: "Der Kiliansplatz ist nur der Parkplatz, aber mehr weiß ich auch nicht." Obwohl sie hier schon immer lebt im Viertel. Das bedeutet: seit 95 Jahren. Sie hat lange jeden Tag in einer Bank gearbeitet, jetzt sitzt sie jeden Tag auf einer Bank. Mit absoluter Ruhe schaut sie den Bauarbeitern zu. Seit Jahren wird hier renoviert, das Dach ist mittlerweile fast fertig.

Die alte Frau wird aus ihrem Nachmittagsdösen von einem gebrüllten "Simon! Simon!" gerissen. Hinter ihr kicken sechs Jungs. Das heißt: Sie werden gleich kicken, sobald Simon es geschafft hat, den kompletten Inhalt der Tüte Knusper-Puffreis-Kugeln mit Fruchtgeschmack in seinen Mund zu schütten und zu zerkauen. Kein Wunder, dass Simon nach der Aktion als Torwart etwa so gut hält wie eine Litfasssäule. Er hat schon drei Gegentore kassiert, als er die letzten Reste des Puffreises runterschluckt. Als die Bauarbeiter sich wieder an die Arbeit machen und ihre abgeschauten Dehnübungen beenden, steht es bereits 8:2 für das Team, bei dem Simon nicht im Kasten steht.

In der Zwischenzeit hat Bogenbauerin Feichtl den Kiliansplatz noch immer nicht gefunden. Dabei haben sie und Gooch ihr Geschäft schon seit neun Jahren, nachdem sie sich an der Schule für Geigenbau in Newark on Trent in England kennengelernt hatten.

Es hat hier offenbar niemand eilig, das Geigenbauen und -restaurieren ist fast so eine langwierige und Geduld fordernde Tätigkeit wie die Restauration einer Kirche, wobei niemand so die Ruhe der alten Dame auf der Bank weg hat. Irgendwann wird sie sicher auch noch den Kiliansplatz finden.

© SZ vom 24.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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