Bahnhöfe in Bayern:Keiner denkt an Sehbehinderte

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"Mehr Bahnhöfe sollen bis 2018 barrierefrei werden" vom 3. Februar:

Wieder einmal bezieht sich ein Zeitungsartikel über Barrierefreiheit sehr einseitig auf Rollstuhlfahrer, Gehbehinderte und sogar auf Leute mit schweren Taschen und Koffern. Die große Gruppe der Blinden und Sehbehinderten (in Deutschland geschätzte 1,5 Millionen) mit ihren sehr unterschiedlichen Problemen und Bedürfnissen findet keine Erwähnung. So begrüßenswert es ist, dass in Bahnhöfen und öffentlichen Gebäuden viele neue Aufzüge und Rolltreppen gebaut werden sollen, so wenig nützen sie denen, die nicht sehen können, wo sie sind. Ohne ein gutes Leitsystem - tastbar für Blinde, kontraststark für Menschen mit Sehproblemen - ist kein Gebäude "barrierefrei".

Es ist ziemlich frustrierend, wenn man nach all den Jahren, in denen so viel von Barrierefreiheit und Integration beziehungsweise Inklusion geredet wurde, feststellt, dass die Probleme von sehbehinderten oder blinden Menschen noch längst nicht so automatisch in die Planungen miteinfließen, wie es nötig wäre, um ihnen eine Teilhabe am "normalen" Leben zu ermöglichen.

Auch Horst Seehofer und Marcel Huber verstehen unter "barrierefrei" offensichtlich nur "rollstuhlgerecht". Wie in ganz Europa, setzt man auch in Bayern auf ein neues Verkehrskonzept beim (Um-)Bau von Kreuzungen und Plätzen, den sogenannten "shared space". Die (vereinfachte) Idee dahinter: eine große, ziemlich ebene (also rollstuhl- und autogerechte) Verkehrsfläche für Alle (Personenwagen, Fußgänger, Radler, Lastwagen); jeder nimmt auf jeden Rücksicht; per Blickkontakt und Körpersignale kommuniziert man, wer vor wem kreuzen darf. So soll sich bei allen Verkehrsteilnehmern schon durch die bauliche Situation zwangsläufig ein rücksichtsvolles und vorsichtiges Verhalten einstellen.

Allerdings sind viele Verkehrsteilnehmer wie etwa Kinder, Fahranfänger, alte Menschen mit Rollator et cetera von einer so offenen Situation überfordert und verunsichert. Für Blinde und stark Sehbehinderte bedeutet "shared space" einen Rückschritt in die Steinzeit der Barrierefreiheit! Vor allem in bayerischen Altstädten steht dem konsequenten Einbau eines Blindenleitsystems die Städtebauförderung mit ihrem Denkmalschutzgedanken entgegen: "Ja wia daad denn des ausschaung!" Blinde und Sehbehinderte können nicht per Blickkontakt kommunizieren, sie können einen Raum nicht überschauen, sich nicht in ihm orientieren, wenn sie keine Leitlinien haben. Ohne tastbare und optische Leitlinien, wie "shared space" bisher meistens gebaut wird (auch bei uns in Mühldorf), ist so ein offener Verkehrsraum für Blinde und Sehbehinderte einfach nicht zu bewältigen. Sie werden gerade durch die Grenzenlosigkeit ausgegrenzt - Barrierefreiheit und Inklusion sind so nicht möglich. Henni Pascoe, Mühldorf am Inn

Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion. Wir behalten uns vor, die Texte zu kürzen.

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© SZ vom 08.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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