Badefreuden:Mehr als eine Kiesgrube

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Der Karlsfelder See ist heute ein Naturparadies. Einst wurde dort Schotter gewonnen, später kamen Schwimmpanzer. Und dann war da noch Emil, das Krokodil.

Von Gregor Schiegl

Unter bunten Sonnenschirmen dösen Rentner, in Griffnähe die Tiefkühlbox, ein paar Meter weiter sitzen Jugendliche mit braun gebrannten Oberkörpern, aus dem Gettoblaster scheppert Hip-Hop, und draußen auf dem Wasser paddeln bäuchlings Kinder Richtung Badeinsel. Im Sommer herrscht am Karlsfelder See Hochbetrieb. An manchen Tagen verteilen sich auf den Liegewiesen etwa so viele Badegäste wie die Gemeinde Einwohner hat, und das sind mehr als 22 000. Der Karlsfelder See ist nicht nur ein See der Karlsfelder. Er ist die Badewanne des Münchner Nordens, sommerlicher Hauptsammelpunkt der Landkreisjugend und glanzvolles Aushängeschild der Gemeinde Karlsfeld, die von Durchreisenden zu Unrecht oft nur als zersiedelter Appendix der Münchner Suburbia an einer vierspurigen Durchgangsstraße wahrgenommen wird. Am Karlsfelder See kann man viel mehr machen als nur Baden. Es gibt einen Rundwanderweg, fast 15 Kilometer Spazierwege, einen Rodelberg, einen Fischweiher, zwei Feuchtbiotope, einen Beachvolleyballplatz, Tischtennisplatten, zwei Bocciabahnen, zwei Sommerstockbahnen, eine Skaterbahn, einen Kinderspielplatz, einen Abenteuerspielplatz, das Jugendhaus "Rock City" und einen Fitness-Parcours, Grillplätze und zwei ganzjährig bewirtschaftete Gaststätten.

Die Karlsfelder haben das Seegelände als Open-Air-Wohnzimmer schätzen gelernt, aber wenn auf einmal Leute hereinspazieren und alles umräumen, kommt das nicht gut an. So ließ der Protest nicht lange auf sich warten, als 2014 reihenweise Bäume der Kettensäge zum Opfer fielen, weil sie alt und krank waren oder als nicht mehr standsicher galten. Und dabei blieb es nicht: Gehölze wurden gerodet, Baumaschinen rollten an und begradigten die Ufer, neuer Kies wurde aufgeschüttet. Das gab viel böses Blut: Auf dem spitzen Kies kommt man ohne Badeschlappen kaum noch schmerzfrei ins Wasser. Nach einer Blitzumfrage der Karlsfelder SPD unter 234 Badegästen fanden 88,9 Prozent die Maßnahmen gar nicht gut.

"Wenn wir nichts tun würden, würde der See langsam verlanden und irgendwann verschwinden", sagt Jens Besenthal. Er ist Geschäftsführer des Erholungsflächenvereins München und leitet die Sanierungsmaßnahmen, die 2014 begonnen haben. Teile des Ufers sind abgebrochen, Liegewiesen zugewuchert. Betonteile wurden freigespült, an denen man sich verletzen kann; das alte Kiesufer ist abgerutscht, und wenn es zu steil ins Wasser geht, kann das für Nichtschwimmer lebensgefährlich werden. Diese Schäden sind großteils behoben. In den kommenden Jahren werden die maroden Toilettenanlagen saniert und Bänke, Abfalleimer und Beschilderung erneuert. Immer wieder hat Besenthal erklärt, warum das, was er veranlasst hat, notwendig ist, auch im Gemeinderat, aber vielleicht reicht das alles nicht. "In Zukunft wollen wir unsere Vorhaben noch besser darstellen", sagt Besenthal. "Auch ein See ist einem Alterungsprozess unterworfen."

Eine Badewanne für den gesamten Münchner Norden. An manchen Tagen liegen so viele Besucher auf den Wiesen wie Karlsfeld Einwohner hat. (Foto: Niels P. Joergensen)

Und dann macht er ihm ein schönes Kompliment. Der Karlsfelder See sei "in Würde gealtert" und wirke an vielen Stellen gar nicht mehr wie ein Baggersee. Das ist der Idealfall. Und ist wohl auch das Problem, wenn nun viele protestieren, die Sanierungsarbeiten machten den See kaputt: Viele Karlsfelder haben vergessen oder vielleicht nie gewusst, dass es den See, wie sie ihn heute kennen, noch gar nicht so lange gibt. Erst vor 40 Jahren, im Jahr 1977, wurde das Erholungsgebiet fertiggestellt. Auf Bildern aus den Siebzigerjahren sieht man frisch austreibenden Rasen auf einer künstlich arrangierten Hügellandschaft, dazwischen ragen die noch unbelaubten Bäume in den Himmel wie überdimensionierte Besen, die man mit dem Stiel voraus in den Boden gerammt hat.

Wie viele Badeseen in der Münchner Region ist auch der Karlsfelder See durch den Abbau von Kies entstanden. Davon benötigte die Deutsche Reichsbahn im Jahr 1940 jede Menge, um den Rangierbahnhof in Moosach zu bauen. Steile Schotterböschungen führten in die Grube, die sich bald mit Grundwasser füllte. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte das amerikanische Militär den See als Truppenübungsplatz. Bis 1968 durchpflügten Schwimmpanzer das Gelände. Ilsa Oberbauer, Leiterin des Karlsfelder Heimatmuseums, erinnert sich gut, wie gefährlich das Baden damals war: Es gab allerhand Unrat im See, an dem man sich verletzten konnte; ein paar Meter vom Ufer brach der Grund fast senkrecht ab, und manchmal fanden die Kinder noch scharfe Munition in den grasbewachsenen Sandböschungen, die schon fast ein wenig an die Dünen der Ostsee erinnerten. Damals war das Gelände eine Wüste aus Schotter und grobem Sand. Wenn jemand mit dem Auto an- oder abfuhr, zog er eine riesige Wolke aus Staub hinter sich her.

Seit den Siebzigerjahren hat der Erholungsflächenverein etwa 8,1 Millionen Euro investiert

Gut im Gedächtnis ist Ilsa Oberbauer der Kies-Verladeturm der Firma Moll, die dem Gewässer zeitweise den Namen Moll-See gab. Am Nordufer befand sich auch ein Bunker aus der Kriegszeit. Auf die Karlsfelder Jugend übte das Monstrum aus Beton magische Anziehungskraft aus; hier traf man sich zu Liebeleien und zu manchem mehr, die Güterwaggons dienten als Umkleide. 1973 wurde der Bunker der Liebe gesprengt und stürzte in einer schwarzblauen Wolke zusammen. Für das Areal gab es neue Pläne.

Dafür muss man ein paar Jahre zurückgehen, in die Sechzigerjahre. "Das war die Wirtschaftswunderzeit", erzählt Jens Besenthal. "Die Leute konnten sich wieder etwas gönnen - und sie waren motorisiert." Das hatte Folgen: "Die Städter sind ausgeschwärmt aufs Land und haben überall Grundstücke an den Seen gekauft." Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD) befürchtete damals einen Ausverkauf der Natur. Erholungsgebiete für alle - das war die Grundidee des 1965 gegründeten Erholungsflächenvereins, dem Städte, Gemeinden und Landkreise in und um München angehören. So kommt es, dass der Karlsfelder See zwar auf dem Gemeindegebiet liegt, für den Unterhalt aber der Landkreis Dachau zuständig ist.

Das hat durchaus Vorteile für die Gemeinde: Alle Kosten zusammengenommen hat der Erholungsflächenverein nach Besenthals Berechnung seit den Siebzigern etwa 8,1 Millionen Euro in den Karlsfelder See investiert, und weitere Investitionen folgen. "Ein hochwertiges Naherholungsgebiet ist auch wirtschaftlich ein wichtiger weicher Standortfaktor", sagt Besenthal. In anderen Gegenden, etwa bei Puchheim, gibt es Widerstände gegen das Engagement des Erholungsflächenvereins: Die Einheimischen wollen "ihren See" nicht mit Auswärtigen teilen. Den Karlsfeldern bleibt wegen ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zur Stadt München aber gar nichts anderes übrig. Übers ganze Jahr gerechnet kommen rund eine halbe Million Leute zu Besuch an den See.

Die Geschichte des Sees wäre aber unvollständig ohne Emil das Krokodil. Im Sommer 1967 brachte der Dachauer Klaus Hager sein schuppiges Haustier mit zu einem Badeausflug. Das Tier entschwand in den Fluten - und ging unter. Offenbar war das Wasser zu kalt. Der damals 22-jährige Tierhalter bekam nicht nur eine Strafe von 35 D-Mark aufgebrummt, sondern soll laut Ilsa Oberbauer sogar Morddrohungen erhalten haben. Wenn es um ihren See geht, verstehen die Karlsfelder keinen Spaß. Das kleine Krokodil ist übrigens nie wieder aufgetaucht.

© SZ vom 06.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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