Forschung:Risiko des Fortschritts

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Markus Vogt kritisiert den zunehmenden Hang des Einzelnen zur Selbstperfektionierung: "Uns fehlt kollektiv die Gelassenheit", sagt er. (Foto: Stephan Rumpf)

Homo sapiens sapiens? "So weise sind wir gar nicht." Markus Vogt, Inhabers des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität, fordert ein Umdenken der Gesellschaft

Von CHRISTIANE FUNKE, München

Das Kämpferische ist ihm nicht anzumerken. Markus Vogt, 52, redet mit leiser, bedächtiger Stimme. Doch geht es um den Klimawandel, die Folgen der Globalisierung und das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer, bezieht der Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) eine klare Position. So kann es nicht weitergehen. Das steht für den Sozialethiker, der in München und Jerusalem Theologie und Philosophie studiert hat, fest. Er kritisiert entfesselte Finanzmärkte, die Logik des Wachstums und schonungslose Ausbeutung von Mensch und Natur. Und er postuliert einen gesellschaftlichen Wandel.

Welche Rolle die christliche Ethik bei diesem Transformationsprozess spielen kann, erläutert der Professor in vielen Gremien: im neuen Bayerischen Sachverständigenrat für Bioökonomie, in den er im April berufen wurde, oder im Forschungsverbund fünf Bayerischer Universitäten unter dem Motto "Fit for Change".

"Lange wurde die christliche Ethik mit der Stabilisierung der bestehenden Ordnung identifiziert, wenn wir aber auf die biblische Tradition schauen, stehen eher Umkehr und Erneuerung im Vordergrund", sagt Vogt. Er sieht sich damit auf einer Linie mit dem jetzigen Papst: "Franziskus ermutigt sehr dazu, innerhalb der Kirche Wandel und Aufbruch zu wagen."

In welche Richtung aber soll der Wandel gehen? "Das Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft muss weiterentwickelt werden zur ökologisch-sozialen Marktwirtschaft", fordert Vogt. Wichtigste Stellschraube sind für ihn die Finanzmärkte, die mit einem TÜV für die Zulassung von Finanzprodukten und einer internationalen Transaktionssteuer in die Schranken gewiesen werden müssten. Ein Instrument, mit dem die Lasten des Klimawandels gerechter verteilt werden könnten, ist für den Professor ein Weltumweltrat, der mit einem Sanktionsrecht ausgestattet wird und die Transferzahlungen für den Klimaschutz steuert.

Die Sicht des ökologisch orientierten Sozialethikers bringt Vogt nun auch in den vom Bayerischen Landwirtschaftsministerium initiierten Sachverständigenrat ein, der die Initiative "Bioökonomie für Bayern!" begleiten soll. Mit anderen Vertretern aus Wissenschaft und Wirtschaft analysiert der Professor, wie biologische Ressourcen nachhaltig genutzt werden können und eine gesunde Ernährung in Bayern sichergestellt wird. Um das Ziel der Nachhaltigkeit zu erreichen, sei auch ein Kulturwandel nötig, meint er. Also eine neue Vorstellung von Wohlstand und Lebensqualität, die "jenseits der gesellschaftlich angebotenen Konsummuster stärker immaterielle Werte" fokussiert. Nachbarschaftshilfe und ehrenamtliches sowie kulturelles Engagement sind Vogt wichtig. Er bringt sich in vielen Gremien ein und hat in der Ukraine ehrenamtlich ein Institut für Religion und Umwelt mit aufgebaut. Dem Begriff des Wachstums setzt er "die christlichen Ideale des Maßhaltens und der Genügsamkeit" entgegen. Sein Credo: "Intelligente Selbstbeschränkung ist für nachhaltiges Wirtschaften genauso wichtig wie technische Innovationen."

Was zu tun ist, steht für Vogt fest. Aber kann er etwas bewegen durch Diskussionsrunden im Expertenkreis? Er bringe wichtige Entscheidungsträger zum Nachdenken. Und das sei "schon viel", sagt der Professor. Wie schätzt er die Gefahr ein, dass der Bioökonomierat ein ökologisches Deckmäntelchen der Bayerischen Staatsregierung ist? Schließlich rügen Kritiker, diese torpediere die Energiewende eher als sie zu fördern. "Ja, die Gefahr des ökologischen Deckmäntelchens besteht", sagt Vogt. Deshalb wolle er die Bioökonomie an einem umfassenden Konzept für Nachhaltigkeit und Klimaschutz messen.

Grauer Flanellanzug, weinrot-weiß gestreiftes Hemd, passende Krawatte: Der Konsum- und Wachstumskritiker unterwirft sich keinem Modediktat. Schon in der Jugend zählten für den Sohn eines Altphilologen andere Werte. Er engagierte sich früh in der katholischen Jugendarbeit und diskutierte als Gymnasiast "kritisch die Gottes- und Sinnfrage". Eine wichtige Etappe im Leben des gebürtigen Freiburgers war auch der Zivildienst. Den leistete er in dem Anfang der Achtzigerjahre errichteten Saul-Eisenberg-Seniorenheim der Israelitischen Kultusgemeinde. Dort begegnete der Zivi vielen Senioren, die im Konzentrationslager gewesen waren oder Angehörige verloren hatten. Einige redeten mit ihm offen über ihre schlimmen Erlebnisse.

Seit diesen Gesprächen mit Juden über den Holocaust und "Gott nach Auschwitz" ist Vogt "allergisch gegen fromme Floskeln, verbrauchte Versprechen und eine triumphalistische Kirche". Ihn interessiert seither, "ob und wie der Glaube in Krisensituationen trägt und zu verantwortlichem Handeln befähigt". Antworten darauf fand er auch in seinem Studium der Philosophie und Theologie an der LMU und in Jerusalem.

Nach dem Studium lehrte Vogt von 1998 an als Professor für Christliche Sozialethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Salesianer Don Boscos in Benediktbeuern, seit 2007 leitet er den Lehrstuhl der LMU. In seinen Lehrveranstaltungen beschäftigt er sich derzeit mit den Risiken des Fortschritts und den Menschenrechten, auch dem Menschenrecht auf Asyl, das durch das Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer von trauriger Aktualität ist. Vogt spricht vom "Meer des Leids". Er sieht zwar "das Dilemma, dass wir nicht beliebig viele Menschen aufnehmen können". Aber: "Wir tun noch nicht genug", sagt er. Das Asylrecht müsste seiner Ansicht nach erweitert werden und auch Menschen berücksichtigen, die vor existenzieller Armut fliehen.

Als Intellektueller, der gerne liest und in seinem kleinen Büro im LMU-Hauptgebäude am Geschwister-Scholl-Platz umgeben von Büchern ist, drückt sich Vogt gewählt aus. Dennoch verliert er sich nicht in verquasten Formulierungen. "Ich finde es sehr wichtig, dass Professor Vogt komplexe Zusammenhänge für Laien gut darstellen kann und eine Brücke zwischen ethisch-normativer Diskussion und dem Bürger schlägt", sagt Claudia Binder, Inhaberin des Lehrstuhls für Mensch-Umwelt-Beziehungen am LMU-Department für Geografie. Binder arbeitet mit Vogt in dem 2013 gegründeten interdisziplinären Forschungsverbund "Fit for Change". In dem Verbund engagieren sich Wissenschaftler fünf bayerischer Universitäten in 13 Projekten. Ziel ist zu untersuchen, was Menschen in Umbruchsituationen - wie Klimawandel, Globalisierung oder Energiewende - Resilienz verleiht, also die Fähigkeit, adäquat zu reagieren. Klar, Resilienz sei wichtig, meint auch Vogt. Aber er sieht "Bemühungen kritisch, die Resilienz von Arbeitnehmern zu stärken, damit sie fit sind, schlechte Rahmenbedingungen auszuhalten". Auch den zunehmenden Hang des Einzelnen zur Selbstperfektionierung kritisiert der Ethiker: "Uns fehlt kollektiv die Gelassenheit." Sein Appell: Die Menschen sollten "die Begrenztheit unseres Lebens" akzeptieren. Er selbst findet Entspannung, wenn er Geige oder Bratsche spielt oder mit seiner Frau, einer Hebamme, und den drei Söhnen in den Bergen wandert. Vogt ist auch schon von der Uni zu Fuß in seinen Heimatort Schäftlarn gegangen. Sechs Stunden lang. Bei solchen Ausflügen fallen ihm auch Ideen für Projekte ein. Wie etwa die Tagung an der LMU unter dem Motto "Anthropozän", deren Gastgeber der Sozialethiker im Mai war und bei der internationale Wissenschaftler vor allem über die rapide Veränderung von Lebensräumen durch den Menschen und die ethischen Folgen diskutierten.

Wurde die Ausbeutung von Mensch und Umwelt auch durch die katholische Kirche und ihr Verbot der Geburtenkontrolle verschärft? Die Kirche habe sich für Bildung, Gesundheitswesen und Alterssicherungssysteme eingesetzt, für Stellschrauben zur Geburtenkontrolle in armen Ländern, antwortet der Theologe. Im Vatikan werde aber auch neu über Sexualethik nachgedacht. "Reichlich spät", fügt er an.

Hinsichtlich der Überlebenschancen der Gattung Mensch gibt sich Vogt skeptisch: "Die meisten Arten sind ausgestorben und auch wir müssen uns vor Augen halten, dass wir keine Dauerhaftigkeit garantiert haben." Der Mensch bezeichne sich als "homo sapiens sapiens" und verleihe sich zweimal das Attribut weise, aber: "So weise aber sind wir gar nicht", sagt der Sozialethiker.

© SZ vom 17.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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