Podcast "Serial":Bowe Bergdahl in der Rolle seines Lebens

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Fünf Jahre verbrachte Bowe Bergdahl in der Gefangenschaft der Taliban. Nach der Rückkehr galt er als Verräter. Heute ist er der Star der Radio-Serie "Serial". (Foto: Jedd Green/Reuters)

Mit "Serial", das von einem 29-jährigen US-Soldaten erzählt, erfindet sich das Radio in Amerika gerade neu. Und alle hören mit.

Von Catrin Lorch

Bowe Bergdahl! Die Aufregung der Hörer ist groß. Ausgerechnet der amerikanische Soldat, der fünf Jahre lang von der Taliban gefangen gehalten wurde, soll jetzt Adnan Syed nachfolgen.

Adnan Wer? Deutsche werden diesen Namen womöglich nicht kennen. Und "Serial" auch nicht. "Serial" ist eine amerikanische Radioserie, die wöchentlich ausgestrahlt wird. Sie startete im vergangenen Winter als Experiment und endete als Sensation. Mehr als 100 Millionen Menschen luden die Folgen aus dem Internet. In einem Medium, das als oberflächlich, eilig, knapp gilt, behauptete sich ausgerechnet das genaue Gegenteil auf dem Spitzenplatz. "Serial" ist langatmig, ausschweifend, akkurat. Aber die Serie triumphierte - mit Adnan Syed.

Syed saß als Mörder, zu lebenslanger Haft verurteilt, in einem Hochsicherheitsgefängnis in Maryland. Im Jahr 1999 war er in Untersuchungshaft gekommen- ein Highschool-Kid aus Baltimore, das unter Verdacht stand, seine Freundin ermordet zu haben. Für "Serial" hatte die Journalistin Sarah Koenig diesen Fall wieder aufgerollt, juristische Fehler waren passiert, Fragen offen. Sie werde mit Jugendlichen sprechen, ob sie Drogen nehmen, mit wem sie Sex haben, hatte Koenig angekündigt: "Alles, um herauszufinden, was an jenem Tag nach der Schule geschehen ist. Eigentlich geht es um zwanzig Minuten." Ein Millionenpublikum folgte ihr, obwohl der Fall nach zwölf Stunden Hören noch immer offen war.

"'Serial' ist der beste Krimi des Jahres", lobte das Internetportal BuzzFeed, "und er läuft nicht im Fernsehen". Das "Serial"-Team bekam den Peabody-Award für Hörfunk. Die Serie gilt als erfolgreichster Podcast überhaupt, ja, sie trug entscheidend dazu bei, dass ein Medium wieder populär wird, das in Europa schon als vorgestrig galt: Radio.

Der Fall eines Serienkillers wurde neu aufgerollt. Millionen Hörer verfolgten die Recherchen

Radio hat nicht einfach eine Zukunft - es steht womöglich wieder ganz am Anfang. Stream und Podcast haben Radio aus den alten Sende-Plänen befreit. Wer Podcasts abonniert, trägt neue Folgen auf dem Smartphone bei sich. Das Magazin Atlantic druckte jüngst das Gedicht "Radio" von Stanley Plumly, darin Passagen wie diese: "Ich könnte ohne nicht einschlafen, ohne die Musik dieser Stimmen in meinem Kopf, die, so gut sie können, zwischen den Sound Effekten überleben oder sterben."

"Serial" hat ein Format etabliert. Auch - oder gerade weil - Sarah Koenig und ihr Team mit journalistischen Gepflogenheit gebrochen haben. Beispielsweise dem Grundsatz, Distanz zu halten. Koenig bezog die Hörer in die Recherchen ein. Widersprüche tauchten auf. Radiomacher und Hörer teilten Überraschungen, Enthusiasmus, Enttäuschungen.

Die Produzenten reizten am Mischpult alles aus, was die Originaltöne hergaben: Wenn Adnan Syed am Telefon war, klang das entfernt und verzerrt. Koenig beließ es beim fernen Quäken. Das Resultat ist eine Nähe zum Geschehen, die sich nicht ausblenden lässt. Hörer werden erst lernen müssen, was sie als Zuschauer perfekt beherrschen: wegzuschauen.

Und nun Bowe Bergdahl. Die neue Staffel lief Anfang Dezember an ( herunterzuladen unter serialpodcast.org) und ist noch kontroverser angelegt, der Fall noch berühmter als der erste. Bowe Bergdahl verließ 2009 seinen Posten in Afghanistan und wurde von den Taliban gefangen genommen. Kurz nachdem er im Austausch gegen Guantanamo-Häftlinge frei gelassen wurde, verkündete Präsident Barack Obama die Nachricht noch stolz im Rosengarten des Weißen Hauses. Doch als Bergdahl kurz darauf in den USA eintraf, mochte ihn nicht einmal sein Heimatort feiern. Vielen gilt er als Deserteur, als Verräter.

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Nun kommt er sogar vor ein Kriegsgericht.

Bergdahl hat nie mit Journalisten gesprochen. Und doch sind lange Telefon-Mitschnitte Ausgangspunkt der Erzählung. Bergdahl unterhielt sich nämlich mit Mark Boal, Drehbuchautor der Amerika-im-Antiterrorkrieg-Filme "Zero Dark Thirty" und "The Hurt Locker". Boal zeichnete 25 Stunden Gespräch mit Bergdahl auf.

Die neue "Serial"-Staffel erzähle den Fall aus vielen Perspektiven, kündigte Koenig an. Wollte Bergdahl tatsächlich eine lokale Krise auslösen, damit die Generäle auf die lausige Situation in seinem Camp aufmerksam werden? Wollte er überlaufen? "Plötzlich merkte ich, dass ich vielleicht etwas richtig Ernsthaftes angestellt hatte", dieser Aussage Berdahls stellt Koenig Gespräche mit Kameraden gegenüber, mit Taliban-Kämpfern, die ihn bewachten, mit US-Veteranen, die ihn suchten. Folge für Folge soll der Blick sich weiten - bis das Panorama auch Diplomatie und Politik einbezieht.

Schon während der ersten Folgen erfuhren die Zuhörer, wie armselig so ein US-Außenposten aussieht. Wie unkoordiniert und brutal die GIs auftreten. "Wir konnten überhaupt keine Erfahrungen sammeln", bricht es aus einem Veteranen heraus: "Alle zehn, zwölf Monate wechselten die Einsatzkräfte. Niemand hatte eine Strategie."

Und Bergdahl? Wie ist ein Verhör durch die Taliban? Irre, sagt er. Schon wegen der Fragen. Es geht um Drohnen, darum, ob Obama schwul ist, und ob sich alle Amerikanerinnen prostituieren.

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"Serial" ist widersprüchlich - aber nie belehrend. Und es ist mehr als Radio. Auf der Internetseite finden sich Videos von Bergdahl in Gewalt der Taliban, interaktive Kunstwerke im Banksy-Stil. Flugblätter, die Afghanen warnen, den Amerikaner zu verstecken, Landkarten, die zeigen, wo dieses Afghanistan liegt. So wie die Serie über Adnan Syed in Wirklichkeit von einem maroden Justiz-System handelt, so ist der Fall Bergdahl eine Parabel über die USA selbst, beispielsweise über Staatsbürger, die keine Ahnung haben, warum sie Kriege führen. "Serial" gibt auch denen eine Stimme, über die man sonst hinwegtrampelt.

War der Erfolg der ersten Staffel ein Coup, so ist die Geschichte von Bowe Bergdahl ein kalkuliertes Medienereignis. Auch der Internet-Radio-Gigant Pandora wird die Serie ins Programm aufnehmen. Pandora sendet regelmäßig für 78 Millionen Hörer. Eine Fernsehserie ist ebenfalls in Planung. Allerdings wird diese sich weder auf Syed noch Bergdahl konzentrieren, sondern auf Sarah Koenig und ihr Team. Christopher Miller und Phil Lord, die Macher von "The Lego Movie", haben sich die Rechte gesichert.

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Der Hauptfigur des "Serial"-Podcasts droht lebenslange Haft. Der Soldat, den Republikaner als "Verräter" bezeichnen, war nach fünf Jahren in Taliban-Gefangenschaft freigetauscht worden.

In Deutschland, wo die Szene vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk und dem Privatradio bestimmt wird, verfolgt man solche Erfolge aufmerksam. Tatsächlich gab es schon Jugendsendungen, deren Sprecherinnen den knurrigen, originellen Tonfall der US-Moderatorinnen kopierten. Aber würden die Chefredaktionen der großen Sendeanstalten ein so brisantes tagesaktuelles Thema den Fabulierern und Avantgardisten überlassen?

"Serial", dessen neue Folgen jeweils donnerstags ausgestrahlt werden, könnte ein Vorgeschmack sein auf eine neue Form des Journalismus. Hatte man Fernsehserien wie The Wire oder House of Cards als neue Formen des Romans, als Epen des TV-Zeitalters im Range von Werken eines Charles Dickens oder Victor Hugo gefeiert, so lässt sich "Serial" nur als Hybrid beschreiben, in dem fiktionale Erzählstrategien in hoch politischer Berichterstattung aufgehen.

Die Muttersendung von "Serial" ist die wöchentliche Radio-Show "This American Life", einer der erfolgreichsten Podcasts der Welt. Aber auch dieser Show ist schon einmal ein brisantes Stück missraten. Im Jahr 2012 überließ man eine ganze Folge dem Reporter Mike Daisey, der seine Erlebnisse in chinesischen High-Tech-Fabriken als Bühnenmonolog schilderte. Später stellte sich heraus: Daisey, der sich eher als Autor, denn als Journalist versteht, hatte vieles verdichtet, zugespitzt, übertrieben. Auch die Bergdahl-Staffel riskiert im schlimmsten Fall, das neue, rasend beliebte Format zu beschädigen.

Bislang hatten ja eher Reality-TV und Magazin-Reportagen die Distanz zum politischen Ereignis ausgehöhlt. In der populären Serie "Homeland" war ein Taliban-Gefangener übergelaufen und als Terrorist in die USA zurückgekehrt. Gut möglich, dass das Misstrauen von Bergdahls Landsleuten gegenüber dem realen Rückkehrer hier seine Ursache hat. Gut möglich, dass ihm "Serial" die Rolle seines Lebens auf den Leib geschrieben hat.

© SZ vom 02.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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