Nachtredaktionen im Ausland:Neues aus der News-WG

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Rund um die Uhr aktuelle Informationen: Immer mehr Online-Medien unterhalten Redaktionen in den USA, Australien oder Asien, die dann arbeiten, wenn die Deutschen schlafen. Ob sich dieser Aufwand lohnt, ist umstritten.

Von Laura Hertreiter und Jürgen Schmieder, Los Angeles

Anne Merholz lacht, wenn sie über die ersten Tage an ihrem neuen Arbeitsplatz berichtet: "Wir sind fünf erwachsene Menschen, die sich zuvor nicht oder nur flüchtig kannten und nun gemeinsam in einem Haus leben und arbeiten. In einer neuen Stadt, auf einem anderen Kontinent."

Merholz gehört zur Nachtredaktion von Bild.de, die das Portal seit drei Monaten von Los Angeles aus beliefert. Zwei Grafikdesigner, ein Chef vom Dienst, zwei Redakteure. "Wir sind die News-WG", sagt die 32-Jährige. Ihre Wohn- und Arbeitsgemeinschaft nutzt die Zeitverschiebung und bestückt Bild.de von den USA aus mit Inhalten, während die Kollegen in Berlin in ihren Betten liegen. Nachtbüros im Ausland sind ein Modell, mit dem immer mehr Medien die Nacht zum Tag machen.

Über Nacht

Das Handelsblatt hat 2010 als erste Redaktion ein Nachtbüro in New York eröffnet, heute arbeiten dort fünf Redakteure und neun freie Mitarbeiter. Die Welt schickte im September zwei Mitarbeiter nach Sydney, ein weiterer soll folgen. Spiegel-Online-Chef Rüdiger Ditz sagte kürzlich, die australische Metropole sei auch für sein Medium "als Standort interessant". Die Redaktion der deutschen Nachrichtenseite T-Online und die Schweizer Nachrichtenagentur SDA planen dort ebenfalls Nachtschicht-Ableger. Schweizer Medien haben dieses Modell ohnehin längst für sich entdeckt: Seit Jahren werden die Nachrichtenseiten von 20 Minuten und Tagesanzeiger aus Asien beliefert.

Die Bild.de-WG in Los Angeles ist in einem Haus in der Nähe des Getty Centers im Stadtteil Westwood untergebracht, jeder Mitarbeiter hat seinen privaten Bereich, es gibt ein Wohnzimmer, eine Küche - und natürlich das Büro. Wie bei all den neuen Nachtredaktionen gilt: Im Unterschied zu Korrespondentenbüros müssen die Redakteure während ihrer Schicht die wichtigsten Ereignisse auf der ganzen Welt abdecken. "Für die Kollegen in Berlin bedeutet das, dass sie morgens nicht erst den Hebel umlegen müssen, sondern dass bereits Geschichten da sind", sagt Marcus Heyl, Bild.de-Redakteur in L.A.

Das ist das häufigste Argument für Nachtbüros im Ausland: Der Leser in Deutschland soll 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche auf dem Laufenden sein, schon früh am Morgen, wenn er zum Smartphone greift. In den vergangenen Jahren haben Online-Redaktionen deshalb auf immer längere Nachtschichten gesetzt. Süddeutsche.de etwa hat in den vergangenen Monaten die Nachtschichten schrittweise ausgedehnt. Mittlerweile ist das Büro von 4.45 Uhr bis 0.30 Uhr besetzt. Von Januar an schickt auch diese Redaktion einen Kollegen ins Ausland. Er soll aus dem Silicon Valley zur europäischen Nachtzeit die Website füllen, nicht mit blanken News, sondern mit eigenen Stücken.

Für Jan-Eric Peters, Chefredakteur der Welt-Gruppe, hat es sich ausgezahlt, deutsche Nachtschichten durch ausgeschlafene Redakteure in anderen Zeitzonen zu ersetzen: "Wir haben festgestellt, dass die Berichterstattung einfach besser wird. Es ist deutlich effektiver, tagsüber zu arbeiten." Finanzielle Vorteile biete das Modell allerdings nicht, auch wenn die Verlage die Nachtzuschläge einsparen, die Redakteuren in Deutschland zustehen. "Es ist teurer, von Australien aus zu arbeiten als in der Zentrale in Berlin. Man denke beispielsweise an Flüge, Unterkunft, Büromiete", sagt Peters.

Dass dennoch immer mehr Auslands-Nachtbüros eröffnet werden, zeigt die Anstrengungen der Redaktionen, die Online-Berichterstattung lückenloser, schneller, besser zu machen. Und: möglichst bezahlenswert. Immer mehr Menschen informierten sich nachts über ihr Smartphone und griffen frühmorgens als erstes zum Telefon, sagte Bild.de-Chefredakteur Manfred Hart, 60, am Dienstag bei seinem Besuch in der News-WG in L. A. Diesen Lesern wolle man ein frisches Portal bieten statt einer veralteten Seite im nächtlichen Standby-Modus.

Wo die Stärken eines ausgeschlafenen Nachtbüros beim Wettlauf um die schnellsten Meldungen liegen können, zeigte laut Welt-Chef Peters ein Vorfall am vergangenen Wochenende: "Unser Team in Sydney hat als erstes deutsches Medium in der Nacht zum Sonntag die Nachricht vom Tod des Schauspielers Paul Walker online gestellt. Sie hatte allein am ersten Tag fast 2,5 Millionen Leser - mehr als je zuvor eine Nachricht bei der Welt." Auch die Bild.de-Kollegen in L. A. meldeten die Nachricht noch vor den englischsprachigen Nachrichtenagenturen und wurden mit immensen Klickzahlen belohnt.

Der Mehrwert bleibt ein Einzelfall

Dennoch: In der Praxis liegt der Mehrwert der Nachtbüros eben bei Einzelfällen. Die wenigsten der nachts publizierten Texte haben tatsächlich auch nächtlichen Neuigkeitswert, der Großteil könnte problemlos vorproduziert werden oder ähnelt aktuellen Agenturmeldungen. Bild.de preist in der Rubrik "Bildlive@night" spezielle Inhalte an - aber auch in diesem Livestream findet sich kaum etwas, das nicht auch deutsche Presseagenturen gemeldet hätten. Selbstproduzierte Geschichten findet der Leser in der Regel erst auf den Seiten, wenn die deutsche Bürozeit beginnt. Ihren mehr als 100 Bild-Kollegen in Berlin dann ein möglichst aktuelles Portal zu überlassen, sei eine Herausforderung, sagt Bild.de-Redakteur Heyl in Kalifornien. "Wir starten um 13 Uhr Ortszeit und arbeiten bis 21 Uhr, also sechs Uhr deutscher Zeit." Sechs Monate lang, dann tauscht die WG ihren Arbeitsplatz am Pazifik mit Kollegen.

Anne Merholz und Marcus Heyl sind, wie alle in ihrer WG, unverheiratet und kinderlos. Bisher habe es keine Bewerber gegeben, die ihre Familie mitnehmen wollten, sagt ihr Chef Manfred Hart. Bei der Welt wechseln die Nachtbüro-Redakteure in Sydney im Vierteljahresrhythmus. Chefredakteur Peters sagt, der Arbeitsaufenthalt sei "durchaus als Incentive für engagierte Kollegen zu sehen". Ob das auch gilt, wenn das Nachtbüro eine Wohngemeinschaft mit Arbeitskollegen bedeutet? Merholz lacht. Das Zusammenleben verlaufe nach kleinen Reibereien zu Beginn problemlos. "Ich habe es mir deutlich komplizierter vorgestellt", sagt sie, "aber wir sind fünf Journalisten, die ähnliche Interessen haben und die sich ständig über Geschichten und Themen unterhalten - und eben zusammen wohnen."

© SZ vom 06.12.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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