Urlaubsleser:Sonnenseiten

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Endlich Ferien, Zeit zum Schmökern. Aber welches Buch darf mitreisen? Und wer liest eigentlich was? Eine Typologie der Urlaubsleser.

Der Gefräßige

Leider neige ich, was die Zahl und die Dicke meiner Urlaubsbücher angeht, zu maßloser Selbstüberschätzung, so wie im Urlaubsrestaurant, in dem ich drei, vier Vorspeisen und ein Hauptgericht bestelle und dann mit dem Argument gegen die Köstlichkeiten ankämpfe, morgen aufs Essen zu verzichten. Ich kämpfe also gegen den Knausgård, der köstlich ist, aber auch nervig. Muss der immer so detailliert erzählen, von seinen Kindern, seiner Frau und der russischen Nachbarin, die betrunken im Treppenhaus randaliert? Geht's nicht etwas kürzer? Ich liege an einem schönen Strand, schwitzend und leise fluchend, trotz 30 Grad kann ich gerade nicht schwimmen gehen, weil mich dieser Norweger mit seinem 800-Seiten-Werk "Lieben" am Haken hat. Im Grunde passiert auch gar nichts, außer dem Vergehen der Zeit und dem Verglühen der Leidenschaft. Knausgård ist so wie das Leben: eher kein Krimi. Und dann ist es geschafft; am letzten Urlaubstag reiße ich die Arme hoch, meine Familie hält mich für bekloppt. Die vier anderen Bücher schleppe ich ungelesen zurück nach München. Christian Mayer

Die Zufallsleserin

"Take one - leave one", dieses Prinzip habe ich Ende der Neunziger bei einer Reise durch Indien lieben gelernt. Wer will in seinem Rucksack denn kiloweise Bücher mitschleppen? Also den ausgelesenen Roman ins Regal des Guesthouse geschoben und ein Buch herausgezogen, das ein anderer Backpacker dagelassen hat. Inhalt: je nach Stimmung. Das ist ja das Tolle, die Lektüre von Reisenden umfasst alle Möglichkeiten von Literatur (in Indien mit einem etwas enervierenden Schwerpunkt auf Hermann Hesse). In Varanasi also Rushdies "Midnight's Children" gefunden, in Delhi in einen Chandler umgewandelt, woraus in Jaipur "Krieg und Frieden" wurde; das hielt bis Goa, dort habe ich Tolstoi gegen "Bridget Jones" getauscht. Heute urlauben wir oft in Ferienwohnungen, wo immer Bücher stehen, und ich halte es weiterhin so. Auf diese Art sind mir die schrecklichsten und die wunderbarsten Romane begegnet. Unvoreingenommenheit ist allerdings Voraussetzung. Frei nach Forrest Gump: "Das Lesen ist wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie, was man bekommt." Tanja Rest

Der Kollektivist

Wir waren mit Freunden an der Ostsee, ein großes Ferienhaus, etwa 20 Leute. Ich hatte drei Bücher mitgenommen, aus drei Kategorien: Will ich lesen, sollte ich lesen, sollen die anderen denken, dass ich es lesen wollte. Dann sah ich auf dem Couchtisch einen kleinen Band, "In Plüschgewittern" von Herrndorf. Akuter Lesefutterneid, alter Geschwisterreflex. Also: gegriffen, gelesen. Und dann einen Tag mit der Mitnehmerin über das Buch und all die Fragen diskutiert, die es in uns genährt hatte. Seitdem lese ich Bücher, die andere mit in den Urlaub bringen. Stufe II des Verfahrens ist gerade in Vorbereitung: Ich werde unscheinbare Bände in die kleinen Lesezirkel einschleusen, um Freunde mit meinen Lieblingsautoren anzufixen. Klappt das nicht, werde ich vielleicht doch noch einen Stand in der Fußgängerzone aufklappen und den Zeugen Jonathan Franzens zu ihrem Recht verhelfen. Cornelius Pollmer

Der Unvollendete

Das Lesezeichen liegt noch auf Seite 259 (Kapitel 63, "Bonadea hat eine Vision"): eine Postkarte von Bozen. Gekauft wurde die Karte bei der ersten Reise des "Mannes ohne Eigenschaften". Ich sah mich als den Typ jungen Mann, für den ein mehr als tausendseitiges Schlüsselwerk über die Epoche in ihren Widersprüchen gerade gut genug ist. Leider fanden sich kaum Begleiter und gar keine Begleiterinnen, die dem Versuch, einfach nur drei Wochen lang auf dem Balkon Robert Musil zu lesen, auch nur ansatzweise großherzig gegenübergestanden hätten. Das Lesezeichen landete auf Seite 81: "Seinesgleichen geschieht". Aber seinesgleichen geschah nicht mehr. Zwar trägt das Buch, oder besser: der erste Band, mit Würde Eselsohren und einen Kaffeefleck. Es war auf einer Terrasse in Ligurien. Es sah Lissabon und New York City, am liebsten lag es im wunderbaren Gasthaus "Zum Hirschen" in Iphofen. Über den jungen Ulrich, den "Mann ohne Eigenschaften", schreibt Musil: "Seither waren sechzehn oder siebzehn Jahre vergangen, wie die Wolken am Himmel trieben." Bei mir sind nun 30 Jahre dahingetrieben, ich habe das Buch alle Jahre erneut angefangen, leider, um folgen zu können, meist wieder von vorn. Spätestens bei Bonadeas Vision war der Urlaub zu Ende und der Vorsatz gefasst, bald weiterzulesen. Doch wie heißt es auf Seite 31: "Die Ziele sind kurz gesteckt, aber auch das Leben ist kurz." joachim Käppner

Der Gespannte

Irgendwann ist es passiert, nach fast allen Maigret-Romanen, nach allen Wallander-Krimis, nach der Sjöwall & Wahlöö-Serie und Chandler, Hammett und Ross MacDonald war plötzlich Schluss mit Krimis. Dieser Lesehunger war gestillt, und kehrte auch im Urlaub nicht wieder. Was hilft? So paradox es klingen mag, mir hilft eine verwandte Gattung, der Spannungsroman. Auch dort sterben Menschen, aber es fehlt der wackere Ermittler, der vom Leben abgenutzte Privatdetektiv. Stattdessen entfaltet sich eine Handlung, die von anderen Mustern geprägt wird als die Suche nach dem Täter. Spannung, die aus zerrissenen Hauptfiguren entsteht und der Schilderung von Szenen, die Bedrohung direkt beschreiben. Am Strand liegen, das Meer rauschen hören und trotzdem in den tristen Gegenden Bostons unterwegs sein? Wenn die Geschichte so spannend, so differenziert, so einfühlsam erzählt wird wie in Dennis Lehanes Romanen - dann kriegt mich keiner aus dem Liegestuhl. Harald Hordych

Die Landeskundlerin

Dass die Burmesen, Männer wie Frauen, tagsüber am liebsten einen "Longyi" tragen, den traditionellen Wickelrock, und vor lauter Betelnuss-Kauen dunkelrote Zähne haben, weiß ich von George Orwell. Was eine "Mohinga" ist, hat mir Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi erklärt (eine Fischsuppe mit Reisnudeln, frittiertem Gemüse und gekochten Eiern), und von den ersten nationalen Wahlen Burmas 1947 habe ich beim indischen Schriftsteller Amitav Ghosh gelesen. Sie alle haben über das Land geschrieben - und ich habe ihre Bücher dafür gerne mitgeschleppt. Der Landeskundler ist vielleicht der Streber unter den Urlaubslesern. Dafür lernt er das Reiseland anders kennen als diejenigen, die sich nur durch die stumpfen Texte im Reiseführer quälen. So fängt mein Urlaub bereits an, bevor ich überhaupt den Koffer gepackt habe - und hört noch nicht auf, wenn ich wieder zu Hause bin. Julia Rothhaas

Die Resteverwerterin

Sich vor den Ferien Gedanken über die Urlaubslektüre zu machen, ist mit kleinen Kindern nicht drin. Jedenfalls nicht mit unseren. Also wird ins Auto gepackt, was auf Stapeln zu Hause seit geraumer Zeit auf Ansprache wartet. Restelesen, demokratisch von oben nach unten. Klingt trübe, ist aber großartig, weil es den Effekt einer Wundertüte hat. Irre Paare finden zueinander. Korsika bereiste Rob Sheffields "Mit Mädchen über Duran Duran reden" mit Elias Canettis "Masse und Macht". Nach Südtirol fuhr Heinz Budes "Gesellschaft der Angst" mit Bill Brysons "It's teatime, my dear!". Dazu Buchleichen, die immer mitreisen, aber nie gelesen werden, weil sie zwar Preise gewonnen haben, aber 1000 Seiten dick sind und nie zu bewältigen, weil sowieso nach zehn Minuten jemand ruft: "Mir ist heiß!"/ "Ich will Eis!". Dienlich sind sie trotzdem, weil sie auch auf wabbeligen Poolliegen für das Selbstauslöserfamilienfoto eine stabile Unterlage für die Kamera bilden. Sind die Ferien vorbei, wandern die Angelesenen mit den Ungelesen wieder auf den Stapel. Bis zur nächsten Reise. Claudia Fromme

© SZ vom 29.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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