Strafvollzug bei Müttern:Mit Mama im Gefängnis

Stacheldraht, was ist das? In einigen Bundesländern dürfen Mütter ihre Kleinkinder mit in den geschlossenen Vollzug nehmen. Ein Besuch.

Ron Steinke

Als Patrizia Antonetti zum ersten Mal ins Gefängnis kam, lernte ihre Tochter gerade sprechen. Besonders ein Satz sorgte für Schwierigkeiten. Ich darf nicht. Nicht: Du darfst nicht, wie Mütter es ja häufig sagen. "Man kann das einem Kind kaum erklären", seufzt Patrizia Antonetti, eine 23-Jährige, die sich den Namen ihrer Tochter auf den linken Oberarm hat tätowieren lassen, umrandet von einem kunstvollen Wellenmuster. Und vielleicht, so fügt sie hinzu, sollte man es auch besser nicht erklären.

Strafvollzug bei Müttern: Im neuen Frauengefängnis der JVA in München gibt es neben Kinderzimmern, die an die Zellen der Mütter angegliedet sind, eine Spielterrasse und ein Spielzimmer für alle. Foto: Catherina Hess

Im neuen Frauengefängnis der JVA in München gibt es neben Kinderzimmern, die an die Zellen der Mütter angegliedet sind, eine Spielterrasse und ein Spielzimmer für alle. Foto: Catherina Hess

(Foto: sz.sonstige)

Jessica turnt jetzt auf dem Schoß von Patrizia Antonetti, inzwischen ist sie sechs Jahre alt, schmächtig für ihr Alter, aber pfiffig, wie die Erzieherinnen sagen. Die Mutter, die in Wirklichkeit anders heißt, war 16, als sie Jessica bekam. Mit Freunden in Hannover beging sie damals eine Reihe von Diebstählen, fiel mit Schlägereien auf, belog schließlich einen Richter, um einen Freund zu decken. Mit 18 Jahren kam sie für ein halbes Jahr in Haft und nahm ihre damals zweijährige Tochter, deren Vater längst aus ihrem Leben verschwunden war, mit in die geschlossene Mutter-Kind-Abteilung des Frauengefängnisses in Vechta.

Hier gab es nur noch einmal wöchentlich Familienbesuch, anfangs sogar ohne Körperkontakt. Was bedeutete, dass Jessica nicht auf Omas Schoß klettern durfte, als diese zu Besuch kam. Eine dicke Glasscheibe trennte die Familie. "Mama war böse", bot Patrizia Antonetti, die Strafgefangene, ihrer Tochter später als Erklärung für diesen sonderbaren Umstand an. Was Jessica nicht weniger verstörte.

Die niedersächsischen Behörden waren damals einverstanden damit, dass Antonetti ihre Tochter zumindest bis zum Ende ihres dritten Lebensjahres mit in den geschlossenen Vollzug nahm - in eine Zelle mit extra Kinderbettchen, die Jessica die Trennung von der Mutter ersparen sollte. Ob sie die Zweijährige, die in dieser Zeit viel weinte, nicht lieber draußen bei den Großeltern oder bei einer Pflegefamilie hätte lassen sollen, hat Patrizia Antonetti sich seitdem oft gefragt: "Man kommt im Gefängnis ja selbst nicht klar, wie soll dann ein kleines Kind klarkommen?" Und in etwas abstrakterer Form stellen sich dieselbe Frage derzeit auch Sozialarbeiter, Vollzugsbeamte und Landespolitiker.

Die Entscheidung, was weniger schlimm ist für ein Kind - ein Gefängnisaufenthalt oder die Trennung von der Mutter? -, trifft in Deutschland jedes Bundesland für sich; Nordrhein- Westfalen etwa hält, anders als Niedersachsen, die vorübergehende Trennung für das geringere Übel. Dort dürfen Schwangere zur Geburt das Gefängnis für ein paar Tage verlassen. Danach müssen sie ohne Kind zurückkommen.

Ob es dabei bleiben soll, wird im größten Bundesland jetzt neu diskutiert. Die noch amtierende Landesjustizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter (CDU) hat im Frühjahr eine Arbeitsgruppe dazu eingesetzt, an der sich neben ihren eigenen Beamten auch der Sozialdienst Katholischer Frauen beteiligt. An diesem Freitag trifft sich die Gruppe zur zweiten Diskussionsrunde und wird unter anderem überlegen, ob auch Nordrhein-Westfalen im geschlossenen Strafvollzug Kinderbettchen aufstellen sollte.

In den zwei abgetrennten Korridoren, die im geschlossenen Vollzug im niedersächsischen Vechta für Mütter mit Kind reserviert sind, schluckt die kindergartenbunte Bemalung der Wände viel von dem ohnehin schlechten Licht. Ansonsten unterscheidet sich die Abteilung vom restlichen Gefängnis nur durch ein zusätzliches Gitter: Die Treppe am Ende des Ganges ist mit einer Kindersicherung versehen. Die Anstaltsleitung hatte zur Begrüßung stolz auf die historische Bausubstanz verwiesen - 19. Jahrhundert! -, für die Gefangenen bedeutet das aber vor allem niedrige Decken und besonders enge Korridore.

Innerhalb der geschlossenen Mutter-Kind-Abteilung dürfen sich die Bewohner zwar frei bewegen. Bloß, wohin? Über die Treppe gelangt man nach oben zu einem großen Spielzimmer mit Puppenwagen und Bällen. Der einzige Zugang zur frischen Luft ist aber über eine Dachterasse, die wiederum von hohen Wänden und Stacheldraht umschlossen ist und keinen Blick nach draußen erlaubt. Es ist ein Leben wie im Bunker, isoliert im ersten und zweiten Stock. Wie sollte das einem Kind nicht schaden?

Zum Vater oder in die Pflegefamilie?

Die letzte wissenschaftliche Untersuchung, die fragte, was für Kinder von Gefangenen weniger traumatisierend sei, datiert von 1988, sie fiel wenig eindeutig aus und krankte vor allem an methodischen Problemen. Letztlich hängt vieles von der Mutter ab: Wie viel Zuwendung erfährt das Kind von ihr? Und: Letztlich wisse man nie, welche Entwicklungsdefizite ein Kind durch sein Umfeld mitgebracht habe, fügt eine der Pädagoginnen des Frauengefängnisses Vechta hinzu.

Zwar werden die Kleinkinder vormittags im tatsächlich recht hübschen Kindergarten des Gefängnisses betreut, komplett mit bunter Ballwanne wie im Ikea-Spielparadies. In den Innenhof allerdings, wo es immerhin Gras und Blumenbeete gibt, dürfen sie nicht. Die Gefahr, dass ihnen aus anderen Zellenfenstern Verstörendes zugerufen wird oder dass sie in herabgeworfene Spritzen treten, sei zu groß, sagt die Anstaltsleitung.

Spielt ein Kind also oben auf der Dachterrasse des Bunkers, zeigt auf den silber blitzenden Stacheldraht und fragt erstmals: "Was ist das?", dann bleibt es jeder Mutter selbst überlassen, wie viel Wahrheit sie ihm zumutet. Ein Draht zum Schutz vor Tauben, heißt es dann manchmal, erzählt die Pädagogin. Wenn sich solche Fragen häuften, sei dies aber eigentlich ein Zeichen dafür, dass das Kind bereits "zu viel von seiner Umgebung versteht". Spätestens mit drei Jahren sollten Kinder deshalb den geschlossenen Vollzug verlassen haben, so lautet in Niedersachsen die Regel. Sonst beginnen die Kinder allmählich, die Ohnmacht ihrer eigenen Mutter zu begreifen - und wenden sich nicht selten emotional den Beamtinnen mit den Schlüsseln zu.

Die ursprüngliche Idee aus den siebziger Jahren, gestrauchelte Mütter "mit Hilfe" ihres Kindes zu resozialisieren, ganz so, als sei das Kind ein bequemes Mittel zum Zweck, löst heute nur noch ein Schaudern aus, wie Anne Rossenbach vom Sozialdienst Katholischer Frauen unterstreicht. "Man muss in jedem Einzelfall sehen, ob die Alternative, die das Kind draußen beim Vater oder einer Pflegefamilie erwarten würde, nicht doch weniger verstörend für das Kind ist als die Unterbringung mit der Mutter im Gefängnis."

Für Einrichtungen wie in Vechta liefert Rossenbach damit allerdings zugleich das beste Argument mit: Wer jeden Fall individuell entscheiden will, der braucht zumindest auch die Möglichkeit, sich im Einzelfall für ein Kinderbett hinter Gittern zu entscheiden. Sie wie dies neben Niedersachsen auch in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, Hessen und Mecklenburg-Vorpommern möglich ist.

Als Patrizia Antonetti zum zweiten Mal ins Gefängnis kam, war Jessica bereits fünf. In einer hannoverschen Disco hatte die junge Mutter eine Frau blutig geschlagen, in Vechta durfte sie diesmal trotzdem in den offenen Vollzug - hinein in eine völlig andere Welt, nur zwei Straßen entfernt vom hässlichen alten Gefängnis-Haupthaus. Jessica ist hier heute das älteste Kind. Während sie im Kindergarten stolz am Ziffernblatt einer Uhr dreht, lernen viele ihrer Spielkameraden gerade erst laufen.

Hier wird deutlich mehr Normalität simuliert. Das gepflegte, kleine Mutter-Kind-Haus mit dem großen Garten steht offen und ist nicht umzäunt; alle Beamtinnen tragen zivil. Allerdings: Hierhin dürfen nur Frauen, denen die Anstalt zutraut, die offenen Türen nicht gleich wieder zur Flucht zu nutzen - und dies trifft auf die wenigsten zu. So war es auch bei Patrizia Antonettis erster Haftzeit. Erst beim zweiten Mal ist ihr und Jessica der geschlossene Vollzug erspart geblieben.

"Mama war böse", erklärte Patrizia Antonetti ihrer Tochter also einmal mehr. Und sie fragte die damals Fünfjährige, ob sie nicht lieber draußen bleiben wolle, bei Patrizia Antonettis neuem Lebensgefährten, der als Türsteher nachts in Hannovers Discos arbeitet.

Jessica wollte nicht.

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