Staat als Zwangserbe:Was vom Leben übrig bleibt

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Ob Yacht oder verwahrloste Wohnung: Was die Erben nicht wollen, geht an den Staat. (Foto: Getty Images)

Es gibt in Deutschland nichts, das niemandem gehören darf. Wenn ein Mensch stirbt und keiner das Erbe haben will, muss der Staat einspringen. Egal, ob es sich bei den Hinterlassenschaften um ein Abbruchhaus, eine Yacht oder ein Bordell handelt.

Von Charlotte Frank

Eine Porzellanpuppe mit Schlafaugen, eine Schiffsuhr aus Messing, ein Karton voller Notenblätter. Daneben kistenweise Schmuck, Perlenketten, Klunker. Im Regal ein Goldbarren, Silberbesteck, Münzen. Ein Bord voller Fotoapparate. Ein Adler aus senfgelber Keramik. Reste eines Lebens. Manchmal ist das alles, was bleibt, wenn ein Mensch stirbt. Und nicht einmal das wollen seine Angehörigen dann noch haben.

Holger Holl steht im Tresorraum seiner Behörde in Hannover, vor dem Regal mit der Porzellanpuppe, greift den Adler heraus und schwenkt ihn durch die Luft. "Viele Leute, die ein Erbe ausschlagen, haben keine emotionale Bindung mehr zum Besitz ihrer Verwandten", sagt er. Er betrachtet den hässlichen Vogel nachdenklich. "Oft fragen die Familien nicht mehr: Was hat so eine Figur meinem Vater mal bedeutet? Sondern nur noch: Was bleibt übrig?"

Niedersachsens Erbschaften seit 2008 verdreifacht

Für den Staat inzwischen eine ganze Menge: Senfgelbe Adler und Schiffsuhren und Schmuck, aber auch Bargeld und Firmen, Yachten und Autos, Immobilien, Ziegeleien. Manchmal erbt der Staat auch ein Fitnessstudio oder ein Bordell. War alles schon dabei, sagt Holger Holl, der in der Oberfinanzdirektion Niedersachsen für Staatserbschaften verantwortlich ist. Allein im vergangenen Jahr sind dem Bundesland mehr als 1350 Erbschaften zugefallen, im Wert von mehr als 3,4 Millionen Euro. "Das war Rekord", sagt Holl. Er sagt das ganz ruhig, einen Rekord zu vermelden, ist er gewohnt - schließlich wird seit Jahren ein neuer gebrochen. 2005, als Holl seinen Job antrat, erbte das Land erst 153 Mal. 2008 fielen dem Fiskus in Niedersachsen schon 485 Nachlässe zu. Heute sind es fast dreimal so viele. "Und die Tendenz geht weiter nach oben", sagt Holl.

Das ist kein niedersächsisches Phänomen, die Zahl der sogenannten Fiskuserbschaften ist im ganzen Bundesgebiet hoch. Bayern hat im vergangenen Jahr 6,5 Millionen Euro durch Nachlassbearbeitungen eingenommen, Hamburg hat netto mehr als 730.000 Euro geerbt und Nordrhein-Westfalen mehr als 520.000 Euro. Dass der Staat so oft Erbe wird, sagt Holger Holl also, "ist ein gesellschaftliches Phänomen". Eines, das viel darüber aussagt, wie Familien heute zueinander stehen und wie sie zusammenhalten. Oder auch nicht mehr.

Eine Stiftung, ein Kaffeehaus, eine Yacht

Ausgerechnet in der Oberfinanzdirektion Niedersachsen kann man darüber einiges erfahren, in einem hässlichen Neubau in Hannover. Im Foyer weist eine Tafel den Weg zu so aufregenden Abteilungen wie Hauptzollamt Bremen, Bundesfinanzdirektion Mitte und West oder Bau- und Liegenschaften. Dort arbeiten Holger Holl, Anzug, grüne Krawatte, Typ Referatsleiter, und sein Kollege Martin Viets, Jeans, Lederarmband, Typ Anpacker. Ein ungleiches Gespann. Der eine Jurist, der andere früherer Polizist. Der eine spricht leise, der andere haut auf den Tisch. Sie sagen, man brauche ganz unterschiedliche Herangehensweisen, wenn man am einen Tag eine Stiftung in Liechtenstein erbe und am nächsten Tag ein Kaffeehaus in Bad Grund. Gerade ist Martin Viets zum Beispiel dabei, eine Yacht in Griechenland zu verkaufen, die neuerdings dem Land gehört.

"Es gibt weiß Gott schlimmere Nachlässe für eine Familie als eine Yacht", sagt Viets. Aber diese Yacht habe seit drei Jahren im Hafen gelegen, als ihr Eigentümer starb, ein Geschäftsmann mit einem Insolvenzverfahren am Hals. Das Schiff war repariert worden, aber die Handwerker hätten nie Geld dafür gesehen. Die Liegegebühren seien auch nicht bezahlt worden. "Also haben die Erben abgelehnt", sagt Viets. Also musste das Land einspringen.

Es gibt in Deutschland nichts, das niemandem gehören darf, so schreibt es das Gesetz vor. Kein Besitz kann einfach so von seinem Besitzer verlassen werden, ohne dass er einen neuen Eigentümer hat. Im Notfall muss der Staat als Zwangserbe herhalten. "Wir können nicht Nein sagen", sagt Holger Holl.

Nicht wenn es am Freitagmittag, kurz vor Behördenschluss, plötzlich heißt, das Land habe ein einsturzgefährdetes Haus geerbt. "Das war noch vermietet, da wohnten eine alte Dame und ihr kranker Sohn drin", sagt Holl. Er und sein Team mussten in kürzester Zeit eine neue Bleibe für die beiden suchen. Sie konnten auch nicht Nein sagen, als sie am Gründonnerstag ein Pferd erbten, das sofort und unbedingt noch vor Ostern aus seinem Stall abgeholt werden musste. Oder als sie einen Steuerhinterzieher beerbten, mit einer panamesischen Gesellschaft, die ihren Sitz auf den Bahamas hatte.

Einsamkeit und Verschuldung als Gründe

Dann wieder kommen ihnen Fälle unter, da gibt es gar keinen Grund für ein Nein. Etwa, als vor einigen Monaten eine alte Dame in Hannover starb, die die Nachbarn als arm und verwahrlost beschrieben hatten. "Raten Sie mal, was wir in der Wohnung gefunden haben", sagt Viets. Kunstpause. "Drei Umschläge. In einem 50.000 Euro Bargeld, im anderen 33.000 Euro und dann noch mal 50.000. Dazu Sparbücher und Konten. Die Frau hatte ein Vermögen von mehr als 1,3 Millionen Euro." Er lacht, es ist eine schöne Pointe, aber auch eine traurige. Wenn der Staat erbt, dann bedeutet das oft, dass die Menschen niemanden hatten, dem sie ihren Besitz hinterlassen konnten. "Immer mehr Menschen sterben in Einsamkeit, ohne Angehörige", sagt Holger Holl. Manche, weil sie keine Kinder haben und weil ihre restliche Verwandtschaft so verzweigt ist, dass die Nachlasspfleger etwaige Halbgeschwister von Nichten von Großonkeln nicht mehr finden können. Manche sterben auch einsam, weil sie sich mit ihren Kindern zerstritten haben. Und manchmal lebt die Familie so weit weg von den alten Eltern, dass sie seit Jahrzehnten nicht mehr in dem Haus waren, das sie, möglicherweise mit undichtem Dach und rostigen Leitungen und einer Hypothek obendrauf, übernehmen sollen.

"Das ist das nächste Problem", sagt Martin Viets: "In Deutschland sind immer mehr Menschen verschuldet, sie sterben natürlich auch verschuldet." Es gibt dazu keine genauen Zahlen, die Schätzungen schwanken stark. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ging 2006 noch von 1,6 Millionen verschuldeten Haushalten aus. Inzwischen sollen es 1,8 Millionen sein. "Wenn jemand mit Schulden stirbt, wollen die Nachkommen mit dem Ärger nichts zu tun haben", sagt Viets. "Ist ja auch verständlich." Früher habe oft noch der Ruf der Vorfahren eine Rolle gespielt und was die Leute denn denken sollten, wenn das Grundstück, seit Jahrhunderten im Familienbesitz, verkauft würde. "So etwas spielt nur noch selten eine Rolle", sagt Viets. Dann grinst er und sagt, dass aber doch erstaunlich oft, wenn eine Erbschaft ausgeschlagen würde, in einem Haus plötzlich ein Bild fehle. Oder in der Hose des Verstorbenen das Portemonnaie oder an seinem Arm die Uhr. "Das versuchen uns die Leute oft weiszumachen: Nackt auf die Welt, nackt aus der Welt."

Er steht jetzt neben seinem Chef im Tresorraum, greift in die Kiste voller Goldketten und lässt den Schmuck durch die Finger rieseln wie Dagobert Duck seine Taler. Viele der Gegenstände hier im Tresorraum sind bereits im Internet zu finden - alles, was die Bundesländer erben, versteigern sie auf einer Auktionsseite des Zolls, auch "Behörden-Ebay" genannt. Da bringt manchmal gerade der größte vermeintliche Ramsch das meiste Geld ein. Holl zeigt auf den senfgelben Adler: "So etwas hier, also ich weiß nicht, ob ich das mitgenommen hätte", sagt er, "aber die Kollegen nehmen sicherheitshalber ein Stück mehr mit als eins zu wenig." Man wisse ja nie, was in einem Leben wertvoll war und was nicht. Hinter Holger Holl und Martin Viets steht eine Kiste mit Aussortiertem. Taschenrechner, Holzperlenketten, Plunder und Trödel. Reste eines Lebens. Darauf klebt ein Zettel: "Vernichten".

© SZ vom 26.08.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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