Sinn&Unsinn:Krass dagegen

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Morddrohungen? Wenn's sonst nichts ist. Kein türkischer Künstler protestiert so knallhart gegen Erdogans Herrschaft wie Sükran Moral.

Von werner bloch

Puppen bluten. Şükran Moral hat sie zusammengenäht, sie sitzen am Schreibtisch, ihre Finger sind bandagiert, Blut suppt auf ein Kissen mit den Umrissen der Türkei. "Es gibt hier jedes Jahr mehr Kindesmissbrauch", sagt Moral, eher nebenbei, als sie den verblüfften Besucher an der grausigen Installation vorbeiführt. Im vergangenen Sommer hat das türkische Verfassungsgericht entschieden, dass Sex mit Zwölf- bis 15-Jährigen nicht mehr automatisch als Kindesmissbrauch gilt. "Das grenzt an Pädophilie", sagt Şükran Moral, "und das Ganze wird noch gedeckt von den Gesetzen der Scharia." Tatsächlich: Man ist noch keine zwei Minuten bei Şükran Moral, der wohl radikalsten Künstlerin der Türkei - und thematisch schon bei der Scharia. Das islamische Gesetz soll nach dem Willen von Teilen der Regierungspartei AKP die Grundlage der Verfassung werden. Es wäre das Ende der modernen, säkularen Türkei.

Şükran Moral ist eine Frau, die ihren Protest so drastisch in Kunst umsetzt wie kein anderer türkischer Regierungskritiker. Mit ihren Puppen hat sie eine Beschneidung öffentlich vorgeführt. Sie mag die Übertreibung, die Überspitzung. Seitdem ist sie Hassfigur der religiösen Konservativen in der Türkei. Aber seit Präsident Erdoğan im April sein umstrittenes Verfassungsreferendum knapp gewonnen hat, wirkt es, als bewahrheite sich auf albtraumhafte Weise alles, was Şükran Moral seit Jahrzehnten so plakativ anprangert. Wie lebt es sich in dieser aufgewühlten Zeit als Künstler, der behandelt wird wie ein Staatsfeind?

Wer die Künstlerin in ihrer Wohnung im Istanbuler Ausgehviertel Cihangir besuchen will, landet im vierten Stock eines Altstadthauses erst mal vor einem Eisengitter. Es sichert die Wohnungstür dahinter. Moral öffnet grinsend, sie trägt eine kurze braune Lederjacke, sie wirkt wie eine Mischung aus Model und Punk. Die Wohnung dient als Atelier, im Flur kleben Fotos von früheren Performances. Şükran Moral ist im Ausland berühmt geworden: in Skandinavien, in Holland, in Berlin an der Akademie der Künste. Nur in der Türkei kennt sie kaum einer mehr, die Medien schweigen sie tot. Sie gilt als zu radikal. Zu Vernissagen werde sie gar nicht mehr eingeladen, sagt sie, Sponsoren sprängen ab. "Viele haben Angst, sich mit mir zu zeigen."

Genau 20 Jahre ist es her, dass sie mit einem Skandalvideo auf der Istanbul Biennale schlagartig berühmt wurde: Sie war in ein Männern vorbehaltenes Hamam, ein Schwitzbad, marschiert. Moral legte sich nackt zwischen die dampfenden Badegäste, ließ sich von einigen den Rücken abreiben. Eine gezielte Provokation der alten, paternalistischen Türkei, die Frauen immer noch aus vielen sozialen Bereichen ausgrenzt. Ein paar Männer im Dampfbad rasteten aus. "Wenn mein Kameramann nicht dabei gewesen wäre, hätten sie mich verprügelt." Das Istanbul Modern, ein bedeutendes Museum für Gegenwartskunst, kaufte das Video später für seine Sammlung. Doch inzwischen hat man es entfernt - angeblich, weil man die Werke routinemäßig austausche. Şükran Moral hält das natürlich für einen Vorwand: Die furchtlose Frau im Schwitzbad, meint sie, passe nicht ins Selbstbild von Erdoğans Sultanat.

Jetzt ist sie da gelandet, wo sie nie hinwollte: in der Illegalität. "Wenn kritische Kunst ein Verbrechen ist, was bleibt dann noch, als heimlich weiterzumachen, im Untergrund?", fragt Şükran Moral. Auch dieses Mal wird sie im September nicht bei der Biennale von Istanbul dabei sein, der türkischen Olympiade der Gegenwartskunst. Ihre letzte große Retrospektive hieß My Pain my Rebellion, 2015, in Norwegen - dort ist es einfacher für sie auszustellen. "Schmerz verwandelt sich bei mir in Wut", erklärt sie.

Moral hat bei einem Lieferdienst türkisches Essen bestellt und auf einem Stuhl im Esszimmer Platz genommen. "Wir leben in der Hölle", sagt sie, ganz ernst, während sie an einer Tasse Tee nippt. Was sie damit meint: Die Schließung regimekritischer Zeitungen, die Verhaftung Hunderter Journalisten, die Entlassung Tausender Lehrer und Beamter nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016. "Das Land rutscht seither in eine Diktatur", sagt sie, mit dem Referendum habe Erdoğan nun auch die letzte nötige Vollmacht für die Abschaffung der Republik. "Ich höre die Stiefelschritte des Faschismus."

Ihr Vater sagte zu ihr: "Ich würde dich fördern, wenn du ein Junge wärst."

Zensur ist sie gewohnt. Als sie vor drei Jahren in Diyarbakır auf einen Balkon stieg und im Anzug und mit aufgeklebtem Schnurrbar unverständliches Zeug auf die Menge herabbellte, brach im Publikum ein Aufstand los. "Alle hatten verstanden, was gemeint war." Männer versuchten, auf den Balkon zu klettern. Sie musste abbrechen. Egal, ob bei ihren Performances oder beim Tee in ihrer Wohnung - Şükran Moral strahlt eine Selbstsicherheit aus, die man nur bei absolut kompromisslosen Menschen findet. "Ich will nur eins: dass mein Protest überall in der Welt gehört wird. Was mit mir und meinem Körper geschieht, ist mir egal." Ein etwas großmäulig dahingesagter Satz, könnte man meinen - aber für Moral ist ihr Körper tatsächlich Teil ihrer Kunst. Sie geht damit bis an die Schmerzgrenze - und darüber hinaus.

Einmal hat sie sich bei lebendigem Leib beerdigen lassen. Im Brautkleid, mit Schleier, im frisch ausgehobenen Grab. "Ehebruch" hieß diese Arbeit. Bis heute ist Şükran Moral eine Rebellin geblieben. "Man schreibt uns Frauen vor, wir sollten nicht allzu laut reden oder in der Öffentlichkeit lachen, das brächte die Männer angeblich auf teuflische Gedanken. Als ob das das Problem der Frauen wäre!" Männer, meint sie, hätten ohnehin Angst vor dem weiblichen Geschlecht, dem weiblichen Orgasmus. Dagegen schreibt, malt und zeichnet sie frech an, manchmal auch lustvoll pornografisch. Aber am liebsten drückt sie sich in ihren Performances aus. Şükran Moral liebt die Entlarvung der Heuchelei, besonders dort, wo es um Frauenrechte geht. Einmal hat sie drei junge Kurden gleichzeitig geheiratet. Sie blättert ein paar Fotos durch. Man sieht sie vor einer Gruppe Männer am Eingang eines Bordells, mit knappem durchsichtigen Kleid und blonder Perücke. "Wenn sie aufs Zimmer kamen, sagte ich ihnen, dass ich sie filmen will."

Die Arbeit schlug, wenig überraschend, in der türkischen Kulturszene ein wie eine Bombe. Noch nie hatte eine Frau im Puff Kunst gemacht. Es ist ein Thema, über das sie lange und wütend sprechen kann: der "Betrug an der Sexualität der Frau". Die meisten Türkinnen würden von ihrem Bruder und Ehemann drangsaliert, sagt sie. "Schon kleinen Mädchen sagt man: Wenn du nicht tust, was ich dir sage, endest du im Bordell." Sie hat das leidvoll selbst erfahren. Aufgewachsen ist Şükran Moral in der Nähe der Stadt Terme, ein paar Minuten vom Schwarzen Meer entfernt. Der Vater nahm sie mit zwölf von der Schule, mit 13 bekam sie erste Heiratsanträge. Wenn der Vater sie erwischte, wie sie nachts heimlich Bücher las, schlug er sie. "Ich würde dich fördern, wenn du ein Junge wärst", sagte er. Mit 18 lief sie von zu Hause weg, schlug sich mit Jobs im Istanbuler Hafen durch. Dann schaffte sie es an die Kunstakademie.

Das große Problem der Türkei, glaubt Şükran Moral, ist die mangelnde Solidarität. "Als Abtreibungen in Polen verboten werden sollten, gingen die Frauen in Warschau auf die Straße." Am Ende lehnte das Parlament das Gesetz ab. "Dazu wären wir nicht in der Lage." Die Regierung tue alles, um das Volk zu spalten. Aleviten, Christen, Kurden, Juden - die vielen Kulturen in der Türkei fänden einfach nicht zueinander. Stattdessen überschwemmten Islamschulen das Land und begrüben den laizistischen Traum des Staatsgründers Atatürk.

Wenn es einen Hoffnungsschimmer gibt, dann wäre das für sie Gezi - die symbolträchtige Schlacht um den Park im Zentrum Istanbuls im Sommer 2013. "Damals war die ganze Türkei mobilisiert. Dass es diese Kraft gab, dass sich ein ganzes Volk gemeinsam bewegt - unglaublich." Auch dort machte sie eine Performance. Im Flur hängt ein Foto. Es zeigt Şükran Moral mit einer Gasmaske auf dem Gesicht und einer Rasierklinge. "Meine Message: Wir sind bereit zu kämpfen und zu sterben." Das Symbol vieler Demonstranten von Gezi war das A von Anarchie. Die Künstlerin ritzte es sich vor der tobenden Menge mit der Klinge in den Bauch. Sie steht auf und zieht ihren Pullover über den Bauchnabel. Die Narbe sieht man noch deutlich.

© SZ vom 29.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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