Sinn & Unsinn:Schönes Nichts

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Viel kaufen und besitzen zu können, überfordert viele Menschen. Minimalisten wie Joachim Klöckner befreien sich vom Eigentum. Sein ganzer Besitz passt in einen Rucksack, er lebt von 450 Euro im Monat - und fühlt sich nicht arm.

Von titus arnu

Der Weg zum Minimalisten führt durch maximales Chaos. Joachim Klöckner wohnt zur Untermiete in einem eher unübersichtlichen Künstleratelier. Die Vier-Zimmer-Altbauwohnung in Berlin-Schöneberg ist vollgestopft mit Bildern, Skulpturen, Leinwänden und Büchern. "Gehört alles nicht mir!", sagt Joachim Klöckner lachend. Es klingt entschuldigend und erleichtert zugleich. Er trägt einen weißen Overall, ein gelbes T-Shirt, weiße Socken und weiße Plastikschuhe. Mit seinem kurzen weißen Bart, den kurzen weißen Haaren und der weißen Lesebrille könnte der 67-Jährige der etwas besser frisierte jüngere Bruder von Rainer Langhans sein, der ebenfalls einen minimalistischen Lebensstil pflegt.

Der hinterste Raum in der Atelierwohnung wirkt erfrischend aufgeräumt. Oder, anders gesehen: ziemlich nackt. Klöckners Zimmer ist nur 16 Quadratmeter groß und fast komplett leer. Es gibt keine Schränke, keinen Tisch, keinen Stuhl, kein Bild, keinen Teppich, kein Buch, keine Pflanze. Sein einziger Einrichtungsgegenstand ist eine Hängematte, die diagonal im Raum hängt - tagsüber dient sie als Sitzgelegenheit, nachts zum Schlafen. Zwei Decken und ein Handtuch liegen gefaltet auf dem Boden. Die "Küche" passt auf ein paar Quadratzentimeter: eine Faltschüssel aus schwarzem Silikon, die sich als Teller, Napf und Becher verwenden lässt, ein Multitool, das gleichzeitig Gabel und Löffel ist. Die Vorräte bestehen aus vier Bananen, einer Orange und einer Packung Müsli.

Alles, was Joachim Klöckner besitzt, passt in einen gelben, regendichten Rucksack. Wenn er umzieht, was oft vorkommt, trägt er sein gesamtes Hab und Gut darin mit sich. Im Rucksack befinden sich zwei Hosen (eine für den Winter und eine für den Sommer), eine Klapp-Zahnbürste, Socken, Unterhosen, eine Schere, ein winziger Kugelschreiber, Natron für die Körperpflege, ein iPad, ein Smartphone, ein Ladekabel - das war's. Für den Winter kauft er bei Ikea eine Tagesdecke für drei Euro, schneidet ein Loch rein - fertig ist der Poncho. Oder er wandert für ein paar Monate in den Süden aus, nach Spanien oder Portugal, dort braucht er noch weniger Klamotten. "Das ist sehr befreiend", sagt Joachim Klöckner, "ich habe weniger Dinge um mich herum, und deshalb bleibt mir viel mehr Zeit und Energie, um mich auf das Wesentliche zu konzentrieren." Das Wesentliche, das ist für ihn: "weniger tote Gegenstände, mehr Raum für Lebendiges".

Minimalismus als Gegenbewegung zum Konsumterror ist ein relativ junger Gesellschaftstrend. Je schneller und komplizierter unsere Welt wird, desto größer wird auch die Sehnsucht nach dem sogenannten einfachen Leben. Immer mehr Produkte im Supermarkt, immer mehr Statusmeldungen auf sozialen Medien, immer mehr Nachrichten fordern unsere Aufmerksamkeit. Solch ein Überangebot kann einen mehr stressen als Knappheit. Der Psychologe Barry Schwartz nennt das "Paradox of Choice". Seine These: Zu viele Wahlmöglichkeiten erhöhen paradoxerweise nicht unsere Freiheit, sie lähmen uns. Minimalisten steuern diesem Effekt entgegen. Sie bauen ihr Gemüse selbst an, sie reparieren, tauschen, teilen und leihen Gegenstände, die sie nicht oft brauchen. Ihr Ziel: weniger Komplexität, mehr Selbstbestimmung.

Joachim Klöckner war diesem Trend um viele Jahre voraus. Er strebte einen schlichten Lebensstil an, lange bevor das Schlagwort dafür erfunden wurde. Früher war auch er ein typischer Konsument, er arbeitete als Geschäftsführer in einem Maschinenbau-Unternehmen in Kassel, fuhr Porsche und sammelte Rallye-Pokale. 1984 wurde er Vater und war zwei Jahre lange Hausmann, hatte mit Vorurteilen, dem Abwasch und Rollenbildern zu kämpfen. Nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im Jahr 1986 beschloss er, etwas für die Zukunft tun und sich aktiv um die "Mitwelt", wie er die Umwelt nennt, einzusetzen. Die nächsten 15 Jahre arbeitete er als Energieberater für Unternehmen. Während dieser Tätigkeit kam er zur Erkenntnis, dass Technik nicht alles ist. Man kann ein Haus noch so gut dämmen, wenn sich die Menschen, die darin wohnen, nicht umweltbewusst verhalten.

Seine Beziehung war "glorreich gescheitert", wie Klöckner erzählt, und mit dem klassischen Konsumenten-Dasein kam er auch immer weniger klar. Also begann er, sein eigenes Leben zu optimieren. "Ich beschloss, Klarheit zu schaffen, alles aus dem Weg zu räumen, was mich stört", sagt er. Und das war ziemlich viel: Auto, Möbel, Bücher, Haus, ein Großteil der Bekleidung. Als Joachim Klöckner im Jahr 2002 nach Berlin umzog, reiste er mit einer Mitfahrgelegenheit von Kassel nach Berlin und konnte seinen gesamten Hausrat schon in einem Rucksack mitnehmen. Er wohnte in WGs, reduzierte weiter seinen Besitz, arbeitete ab und zu noch als Energieberater.

Als Minimalist spart er viel Energie. Und zwar nicht nur Strom, sondern auch Lebensenergie: "Man braucht sehr viel Energie, um Dinge anzuschaffen, um sie zu pflegen - und um sie wieder loszuwerden." Seine Tage sind entspannt. Er wacht auf, wenn es hell ist, löffelt Müsli mit Bananen und Wasser, erledigt ein paar Dinge in seinem Büro, dem iPad. Auf dem Gerät hat er alles, was er braucht - Bücher, Kontakte, Musik, Fotos und Dokumente. Anstatt zu kochen, isst er irgendwo in der Stadt für drei bis vier Euro zu Mittag. Anschließend ein Mittagsschläfchen, danach vielleicht ein Cappuccino im Café und ein Treffen mit Gleichgesinnten. Ab und zu tritt er bei Kulturveranstaltungen auf, bei denen er über seinen Lebensentwurf referiert.

Es sind die immateriellen Versäumnisse, die Sterbende besonders bereuen

Klöckner lebt von einer kleinen Rente und von dem Geld, das er durch Vorträge verdient. 450 Euro netto hat er im Monat zur Verfügung. Das ist selbst dann wenig, wenn man in einer WG wohnt und meistens nur Müsli isst. Man könnte es auch Altersarmut nennen statt Minimalismus. Klöckner legt aber Wert darauf, dass seine Lebensweise keine Folge des geringen Einkommens sei, sondern schon vorher so gewählt war. "Ich lebe zwar unter der Armutsgrenze, habe aber nicht das Gefühl, arm zu sein", sagt er. "Minimalismus ist für mich nicht Verzicht", sagt Joachim Klöckner, "es ist ein Hilfsmittel, mich wohlzufühlen."

In ihrem Buch "Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen" hat die Autorin Bronnie Ware erforscht, was für viele Menschen im Leben wirklich zählt. Materielle Wünsche stehen nicht weit oben auf der Liste. Kaum einer sagt: Hätte ich doch bloß mehr Geld verdient, damit ich mir ein Luxusauto hätte kaufen können. Im Gegenteil, es sind die immateriellen Versäumnisse, die Sterbende oft bereuen: Hätte ich doch bloß mehr Zeit mit meinen besten Freunden verbracht! Hätte ich meiner heimlichen Liebe wenigstens einmal gesagt, was sie mir bedeutet! Hätte ich mein Leben doch kreativer gestaltet! Joachim Klöckner ist guter Dinge, dass er sich solche Vorwürfe einmal nicht machen muss. Die Zeit, die andere mit Einkaufen oder Arbeiten verbringen, nutze er vor allem für Zwischenmenschliches. So paradox es klingt, aber gerade das Nichthaben gebe ihm ein Gefühl der Lebensfreude: "Das ist für mich ein Gewinn an Zeit und Raum."

© SZ vom 26.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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