Sack Reis:Wolfsmilch

Lesezeit: 2 min

Liu Xiaobo ist tot, der Literaturnobelpreisträger starb im Gefängnis, weil der Partei die Menschlichkeit fehlt, die er verkörperte. Für China ist das eine fürchterliche Katastrophe, findet unser Kolumnist. Eine Erinnerung an einen der Besten.

Von Kai Strittmatter

Oslo, im Jahr 2011. Ein chinesischer Schriftsteller, er heißt Murong Xuecun und ist tatsächlich anwesend, hält eine Rede. Er spricht über das Leben in China, das "sich so anfühlt als sei man Zuschauer eines Stücks in einem gewaltigen Theater. In dem die Geschichten so absurd und so unglaublich sind, dass kein Schriftsteller sie sich je ausdenken könnte."

Ein Jahr zuvor. Oslo, im Jahr 2010. Eine Bühne, ein leerer Stuhl. Der Mann darauf: ausradiert? Seine Ideen ausgelöscht? So hoffen die Kerkermeister dieses Mannes. Aber der leere Stuhl ist ein mächtiges Bild, für einen mächtigen Geist. Ein Bild der Anklage, vielleicht. Mehr noch: Eines der Hoffnung. Für den Mann, den das Publikum bei der Friedensnobelpreiszeremonie vor sieben Jahren herbeirufen möchte. Für die Zukunft seiner Nation. Für Liu Xiaobo, den Denker und Essayisten, den Eingekerkerten. Für China, sein Land.

Noch einmal der Autor Murong Xuecun, ein Bewunderer Liu Xiaobos: "Die Leute rufen voller Ehrfurcht: China wird wieder groß, die Chinesen sind reich. Aber was wissen sie von den Ungeheuerlichkeiten, die sich hinter der Fassade verbergen?" China ist voller Absurditäten. Viele lassen einen staunend zurück, andere machen einen schaudern. China wird wieder mächtig und groß, und vielleicht ist es eines der größten Unglücke für das Land, dass es dabei gleichzeitig schrumpft. China wird kleingeistig und engstirnig.

Ich war 2012 zurückgekehrt nach China, zwei Jahre nach dem Nobelpreis für den Häftling Liu Xiaobo, und ich sah in den ersten drei Jahren nach meiner Rückkehr insgesamt sechs Interviewpartner, Bekannte und Freunde im Gefängnis verschwinden. Ich hatte geglaubt, China zu kennen, aber das? Und es ist ein Gedanke, der sich mir seither immer stärker aufdrängt: Wieso eigentlich erwischt es in diesem Land wieder und wieder ausgerechnet einige der Besten, der Menschlichsten, der Selbstlosesten? Ausgerechnet die Tatkräftigen, die es nach Wahrheit verlangt und nach Gerechtigkeit? Es ist dies doch ein Land, das den Gipfel an Größe erst noch erklimmen möchte. Warum um alles in der Welt bloß glaubt dieses Land, es könne sich das leisten, sie verstummen zu lassen, ins Exil zu treiben und einzukerkern, seine Mutigsten und Leidenschaftlichsten?

Es ist natürlich nicht das ganze Land, das dies glaubt. Es ist die Partei, die es regiert. Und natürlich fürchten die Mächtigen in der Partei gerade das: die Wahrheit und die Gerechtigkeit. Es ist ihnen ein jeder verdächtig, der sich nicht dem Zynismus, der Lüge und dem Vergessen ergibt. All jene müssen mit ihrer Rachsucht und ihrem Hass rechnen. Sich dem Hass zu verweigern, war der letzte Akt des Widerstandes Liu Xiaobos. "Ich habe keine Feinde, und ich habe keinen Hass" - die letzten Worte Lius an die Richter, die ihn unmittelbar darauf verurteilten. "Hass untergräbt Weisheit und Gewissen eines Menschen. Eine Mentalität der Feindschaft vergiftet den Geist einer Nation, sie zerstört die Toleranz und die Humanität einer Gesellschaft."

Wolfsmilch, so nannte es Liu. Die Wolfsmilch des Hasses, die dem chinesischen Volk seit Jahrzehnten eingeträufelt wird. Liu war unbeirrbar, er glaubte bis zuletzt an ein China, das bereit ist, sich dieser bitteren Milch zu entwöhnen.

Liu Xiaobo ist tot. Das bleibt: ein leerer Stuhl. Ein leeres Totenbett. Mächtige Bilder. Ein mächtiger Geist.

© SZ vom 15.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: