Sack Reis:Vogelgift

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In der Pekinger U-Bahn war früher immer mächtig was los. Man redete wild durcheinander, man konnte über alles reden - heute aber herrscht eine große Stille. Es ist beinahe unheimlich, findet unser Korrespondent aus China.

Von Kai Strittmatter

Einst teilte ich die Welt ein in zwei Sorten Länder: die einen, da reden die Leute in der Straßenbahn und im Bus miteinander. Und die anderen, da tun sie es nicht. Hier quatschen Fremde einander an ohne jeden Anlass und ohne jeden Hintergedanken. Dort sind die Leute peinlich berührt, richtig erschrocken und regelrecht hilflos, wenn ihnen das widerfährt. Deutschland gehörte immer zur zweiten Sorte, China zur ersten. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Neulich habe ich Schnappschüsse gesehen, von einem Dinosaurier in der Pekinger U-Bahn, ich glaube, es war ein Tyrannosaurus Rex. Wahrscheinlich war es ein Mann in einem gewaltigen T-Rex-Kostüm nach Feierabend, wobei, ausschließen kann ich nicht, dass es vielleicht doch ein echter T-Rex war, jedenfalls hatte er einen langen Schwanz und eine weit aufgerissene Schnauze. Wie er da so saß, verloren in dem halb leeren U-Bahn-Waggon, der letzte seiner Art, ein Jungkalb wahrscheinlich, da wirkte er eher verloren als gefährlich. Was mich an den Fotos faszinierte, war die Reaktion der Mitreisenden: Da war keine Reaktion. Da war nichts. Fast alle starrten ungerührt auf ihre Smartphones. Keiner schien den Dinosaurier, der mit dem Kopf fast gegen die Waggondecke stieß, überhaupt zu bemerken.

Ich habe die Unerschrockenheit der Leute an dieser Stelle schon geschildert. Wie ich einmal im roten Nikolauskostüm mit Rauschebart durch Pekings Altstadtgassen irrte, und alle, wirklich alle, die mir begegneten, so taten, als sei es das Normalste der Welt, dass da ein zunehmend panischer Nikolaus mit großem Sack durch ihre Nachbarschaft stapfte (nein, falsch: Die Leute taten nicht so. Es war ihnen wirklich das Normalste der Welt). Wie in Jia Zhangkes ansonsten superrealistischem Film "Still Life" ein Abbruchhaus im Hintergrund ohne jede Vorwarnung plötzlich Raketentriebwerke zündet und gen Himmel abhebt, ohne dass die Protagonisten im Vordergrund das auch nur einer Erwähnung wert fänden.

Da fliegt ein Haus ins Weltall? Ja klar, wohin denn sonst? Wenn du dein Leben verbracht hast in einem Land, so surreal und so absurd wie China, wenn du dich selbst einen Großteil deiner Jahre als Alien gefühlt hast auf einem aberwitzigen Planeten, dann ist eben ein Dino in der U-Bahn auch nur ein Dino in der U-Bahn. Das ist das eine.

Das andere aber ist: Etwas hat sich verändert. Neulich fragte mich eine Redakteurin, ob ich nicht mal ein langes Stück über eine Fahrt mit den neuen Hochgeschwindigkeitszügen schreiben könne. Chinas Zugfahrten seien schließlich bekannt für das pralle, bunte, chaotische, laute Leben, das auf ihnen tobe. Und ich musste antworten: Die neuen Züge sind toll. Aber es tue mir leid, da gebe es nichts mehr zu schreiben. Da ist kein Toben mehr und kein Chaos. Da ist heute ein jeder mit sich und seinem Gerät beschäftigt, und es herrscht einfach nur Frieden und Stille. Das Smartphone hat auch die Chinesen einkassiert. Und nun schluckt es der Reisenden Neugier, Blick und Rede wie ein schwarzes Loch, kein Strahl und kein Laut mehr dringen nach draußen. Gut, das tut es überall. Aber es ist doch noch einmal ein Stück krasser, wenn das Gesumme und Gebrumme einem Land geradezu wesenseigen zu sein schien - und wenn es dann einfach verstummt. Als ob in einem Wald voller Vögel das Gezwitscher plötzlich erstirbt, weil einer die Vögel vergiftet hat.

© SZ vom 20.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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