Sack Reis:Geschmolzene Wut

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Ein verbitterter chinesischer Kriegsheld, ein konspirativer Besuch in einem Bordell und wichtige Kassetten, die zu lange auf der Heizung lagen - jede Menge Stoff für eine große Geschichte. Schade, dass sie nie geschrieben wurde. Bis jetzt.

Von Kai Strittmatter

Geschichten, die lange zurückliegen und einem keine Ruhe lassen. Ungeschrieben. Wie schon letzte Woche berichtet: Ein junger Soldat kehrt aus Chinas Grenzkrieg gegen Vietnam im Rollstuhl nach Hause zurück. Er kann singen, und so macht die Propaganda ihn mit einem Blut-und Ehre-Schlager zum Helden der Nation. Mehr als ein Jahrzehnt später wird in einer Bar ein Mann erschlagen. Ermittelt wird gegen den einstigen Sangesstar: Er hatte mit dem Mann gestritten, soll dann seine Kumpel auf ihn angesetzt haben. Der singende Veteran steht unter Arrest, in seiner Kaserne. Über einen gemeinsamen Freund nimmt er heimlich Kontakt zu mir auf: Er hat Angst vor einem Todesurteil, er will seine Sicht des Vorfalls schildern.

Ich fuhr also hin, und nach einigen konspirativen Telefonaten traf ich ihn, den Kriegs- und Propagandahelden, den Mordverdächtigen. Offiziell stand er unter Arrest, und kam doch am helllichten Tag mit dem eigenen Auto angefahren. Das Auto war umgebaut, sodass er als Querschnittsgelähmter es steuern konnte. Wir gingen essen. Er erzählte mir seine Sicht des Zwischenfalls in der Bar, vor allem aber erzählte er mir die Lebensgeschichte eines Kriegsveteranen, der allmählich verbittert war. Ein Mann, der sich vom eigenen Land vergessen fühlte und von der Propaganda missbraucht. Ein Mann, der zornig war, und der mir gegenüber die damals notorischsten Dissidenten Chinas als seine wahren Vorbilder pries. Er lobte die Demokratie und schimpfte die Partei und malte mir ein paar Mal seine Idee aus, die vergessenen Veteranen des Landes sollten mitten in Peking ein Restaurant eröffnen und zur Werbung einen Panzer davorstellen, da werde die Partei schon sehen. Am Abend lud er mich ins Bordell ein. "Blauer Jasmin". Als Teehaus getarnt. Uns empfing blauer Neonschein, der über modrigem Teppich und Leberwurstmarmor schimmerte. Das Bordell, sagte der Sänger, gehöre einem Freund, einem Polizisten. Tatsächlich wurden wir mit großem Hallo begrüßt. Mir wurde bedeutet, ich solle mich bitte schön eingeladen fühlen.

Dann fuhr ich nach Hause, aufgeputscht vom Konspirativen des Erlebten, elektrisiert von der Geschichte eines Propagandahelden, der zum Regierungskritiker geworden war und dem vorgeworfen wurde, einen Menschen auf dem Gewissen zu haben. Eine Wahnsinnsgeschichte. Die ich dann nie aufschrieb. Warum? Ich war unerfahren damals, nervös. Der Sänger glaubte an die Macht ausländischer Medien. Ich war mir da nicht so sicher. Was, wenn ein solcher Artikel in seinem Falle genau das Gegenteil bewirkte? Wenn eine zornige Partei sich erst recht an ihm rächen wollte? Ich legte meine Interviewkassetten (ja, das gab's mal: Kassettenrecorder) auf die Fensterbank, und schob die Geschichte vor mir her. Wochen. Monate. Der Winter ging vorüber. Irgendwann gab ich mir einen Ruck, dachte: Doch, ich schreib das jetzt. Mit aller Vorsicht. Ging zur Fensterbank, legte die erste der Kassetten in den Rekorder, um das Interview abzutippen. Erst kam nichts. Dann ein Rauschen. Dann etwas, das wie ein langgezogenes Stöhnen in Zeitlupe klang. Die Bänder waren kaputt, praktisch geschmolzen: Drei Monate Winterheizung hatten ihr Werk getan. Ich stand da, fassungslos, mit leeren Händen.

Den Besuch im Bordell übrigens, den gibt es als Seite Drei, den finden Sie im Archiv. Wie es aber dem Sänger schließlich erging? Nächste Woche, versprochen.

© SZ vom 21.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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