Rita Süssmuth über:Scheitern

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Ihr Büro ist gleich neben der britischen Botschaft in Berlin. Rita Süssmuth ist 78 und mindestens so neugierig wie damals, als sie mit 44 als Seiteneinsteigerin in die Politik ging.

Interview von Heribert Prantl

Ihr Büro hat die schönste Anschrift der Republik: "Platz der Republik 1", mitten in Berlin, gleich neben der britischen Botschaft. Rita Süssmuth hat sich dort einen Spruch von Astrid Lindgren aufgehängt: "Es gibt kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern." Rita Süssmuth ist 78, aber mindestens so neugierig wie damals, als sie mit 44 als Seiteneinsteigerin in die Politik ging.

SZ: Lila ist Ihre Lieblingsfarbe?

Rita Süssmuth: Wie kommen Sie darauf?

Sie sind Feministin.

Stimmt. Das heißt für mich: Ich bin Anwältin der Frauen - natürlich nicht in Ausgrenzung der Männer, der Kinder, der Alten oder Behinderten. Aber die Frauen haben über die Jahrhunderte hin eine so starke Herabsetzung und Ausgrenzung erfahren, dass es erforderlich ist, sich für sie starkzumachen. Also bin ich Feministin.

Als Heiner Geißler, damals Generalsekretär, die Erziehungswissenschaftlerin Süssmuth vor 35 Jahren in die CDU holte , war Lila die Farbe der Frauenbewegung. Und die lila Latzhose war das sprichwörtliche Kleidungsstück.

Ich hatte keine.

Aber zwanzig Jahre später, als Bundestagspräsidentin und Organisatorin des Umzugs des Bundestags nach Berlin, haben Sie, so sagt man, dafür gesorgt, dass die Stühle dort im Plenarsaal des Reichstags lila gepolstert wurden.

Die sind in der Grundfarbe blau, mit einem Schuss Rot und Grün. Welche Farbe der Feminismus hat, ist mir nicht wichtig; ob die Abgeordneten auf einer feministischen Polsterfarbe sitzen, auch nicht. Wichtig ist, dass die Gesetze feministische Farbe haben: Bezug zu Menschen, ihren Stärken und Konflikten.

An der Spitze Ihrer Partei steht eine Frau. Wie steht es mit den Frauen in der Union?

Es ist uns gelungen, ein anderes Denken in die Partei hineinzubringen. Das hat lange gedauert. Heute tut man ja so, als sei das selbstverständlich. Aber das war alles andere als selbstverständlich. Vor ein paar Jahrzehnten hielt man die Emanzipation der Frauen noch für den Untergang der zivilisierten Gesellschaft - auch in der CDU. Und diese Emanzipation ist noch lange nicht zu Ende, auch wenn wir nun seit zehn Jahren eine Kanzlerin haben. Die Arbeitsteilung des 19. Jahrhunderts ist immer noch nicht überwunden.

Die Kanzlerin hat immerhin alle männlichen Konkurrenten ausgebootet.

Bleiben wir ernst. Bei Führungspositionen in Wirtschaft und Verwaltung sieht es doch nach wie vor mit Frauen schlecht aus. Gegen eine Frauenquote in Führungspositionen wurde und wird die Freiwilligkeit von Frauenförderung in Stellung gebracht. Schon zu meiner Zeit als aktive Politikerin galt diese Freiwilligkeit zehn Jahre lang, dann kamen noch mal zehn Jahre Freiwilligkeit. Gebracht hat das Freiwilligkeitsgerede wenig. Jetzt haben wir die Quote wenigstens bei den Dax-Unternehmen.

Jetzt klingen Sie ein wenig bitter.

Nein. Aber wenn ich sagen würde, ich wäre wirklich zufrieden, wäre das auch zu viel gesagt. Schauen Sie sich doch die Abläufe bei der Emanzipation an - es gibt immer wieder Offenheit und Zurücknahme der Offenheit. Immer wieder heißt es dann, Frauen seien eben anders, nicht geschaffen primär für Beruf, Öffentlichkeit und Politik, sondern für das Mütterliche und das Kindbezogene. Aber inzwischen haben Frauen nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen sogenannten Entwicklungsländern gezeigt, welch starke Fähigkeiten, welche Potenziale sie haben.

Dieser Potenziale wegen hatte die Union das Betreuungsgeld eingeführt . . .

Ich verstehe Ihren Spott. Ich habe beizeiten eine Erklärung mit Ursula Lehr und Renate Schmidt abgegeben, dass ich dieses Betreuungsgeld für einen Rückschritt halte. Gewiss ist es gut, dass Mütter und Väter sich Zeit für ihre Kinder nehmen, weil sie sich danach sehnen, die Nähe ihrer Kinder zu erleben. Aber diese Sehnsucht befriedigt man doch nicht mit einem Betreuungsgeld, sondern, zum Beispiel, mit einer Erweiterung der Familienzeiten, mit einer viel besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Fürsorglichkeit muss überhaupt nicht im Gegensatz stehen zur Emanzipation - Emanzipation im wohlverstandenen Sinn von Selbständigkeit und Miteinander. Die Armut der Frauen kann man nicht bekämpfen, ohne dass die Frauen selbst erwerbstätig, finanziell eigenständig sind.

Die Mütterrente . . .

. . . ist Flickwerk. Sie ist ja keine wirkliche Grundsicherung für die Frauen, die Familienarbeit in der Erziehung von Kindern und der Pflege älterer Menschen geleistet haben. Diese Frauen stehen ständig vor der Frage: Und wovon lebe ich selbst, wenn ich krank werde, wenn ich älter werde, wenn ich nicht mehr arbeiten kann? Ich wollte eigentlich erst aus der aktiven Politik gehen, wenn dieses Problem verträglich gelöst ist.

Sie haben das Betreuungsgeld und die Propaganda dafür als Niederlage erlebt?

Ja. Es hat doch sehr lange gedauert, bis die Gesellschaft Kindergärten, Kita und frühkindliche Betreuung in ihrer positiven Ergänzung zur Familie anerkannt hat - familienergänzende Betreuung ist etwas sehr Förderliches: Kinder machen Erfahrungen mit anderen Kindern, Eltern stehen in wechselseitigem Austausch. Im Westen der Republik galt familienergänzende Betreuung noch in den Siebzigerjahren als sozialistische Fehlplanung, als schädlich für die Kinder. Der komplette Rückzug in die Familie, den das Betreuungsgeld fördert, ist ein Rückschritt.

Peter Glotz, ihr 2005 verstorbener Professorenkollege von der SPD, hat einmal gesagt, Sie seien "ätzend konsequent".

Er hat es positiv gemeint. Konsequent muss man sein - sonst wird man zum Spielball politischer Kompromisse, die nicht tragfähig sind.

Welche Gaben brauchen gute Politikerinnen und Politiker?

Man braucht große rhetorische Gewandtheit; man muss mit der Macht umgehen können; man muss Überzeugung mit Leidenschaft verbinden. Ich habe vor allem gelernt, nach Misserfolgen wieder aufzustehen, weiterzumachen im Wissen, dass es ein weiteres Scheitern geben kann. Unverzichtbar sind Nähe zu Menschen, Nachdenklichkeit, Selbstachtung und Selbstkritik. Das Nicht-Aufgeben, das Einstehen für eine Sache - es führt zu Glaubwürdigkeit, es schafft Vertrauen.

Hatten Sie die nötigen Eigenschaften?

Nein, erst einmal nicht. Ich hatte auch nie vor, in die aktive Politik zu gehen. Ich war glücklich als Erziehungswissenschaftlerin. Ein Typ für Massenversammlungen war ich nicht, das bin ich auch nicht geworden. Aber ich habe in den ganz großen politischen Auseinandersetzungen erfahren, dass Veränderung in der Politik möglich ist, dass man sehr lange sehr allein stehen und sich trotzdem irgendwann durchsetzen kann. Ich habe viel gelernt und Menschen gerade auch in kontroversen Gesprächen erreicht.

Die großen Auseinandersetzungen - das waren erstens die um den Paragrafen 218, um ein neues Abtreibungsrecht also ; zweitens die um den Umgang mit Aids; und drittens die um die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe.

Bei der Abtreibung hat meine Partei, haben auch die Kirchen gelernt, dass ein Kind nur in dem Maß geschützt werden kann, wie die Mutter es schützen will und kann. Ich habe immer gesagt: Die letzte Entscheidung liegt bei der Frau. Dafür bin ich am Anfang als Mörderin beschimpft worden. Und bei Aids? Ich habe die wahnsinnig großen, die existenziellen Ängste der Aidskranken vor Ausgrenzung, Aussonderung und Verurteilung erlebt. Das hat mich sehr beeinflusst. Ich habe auf Aufklärung und Prävention gesetzt. Die Betroffenen waren tief dankbar, dass solche Dinge wie Verbannung auf eine Insel - ja, Politiker kamen auf die skurrilsten Dinge - verhindert werden konnten. Und die Vergewaltigung in der Ehe - sie ist heute strafbar. Der Kampf dafür hat 25 Jahre gedauert.

Sie haben vor 15 Jahren die sogenannte Zuwanderungskommission der Regierung Gerhard Schröder geleitet, zum Missfallen Ihrer Partei, der CDU. Nach einjähriger Arbeit haben Sie auf dreihundert Seiten Vorschläge zu Asyl, Einwanderung und Integration gemacht. Die wichtigsten Vorschläge sind bis heute nicht verwirklicht. Frustrierend?

Ja und nein. Es gilt auch hier wieder das Motto vom Samuel Beckett, das ich mir zu eigen gemacht habe: "Scheitern, weitermachen, nochmal scheitern, besser scheitern, weitermachen". Wir reden immer von Offenheit und Vielfalt - aber wehe, die Vielfalt rückt uns auf den Pelz. Damals, im Jahr 2000, war das Wort "Einwanderung" fast noch ein Tabu; das immerhin hat sich geändert. Als ich die Leitung der Kommission übernahm, wurde mir gesagt, dass Migrantenorganisationen doch nur "partikulare Interessen" haben. Heute weiß jeder, dass wir mit den Migranten die Probleme lösen müssen.

Was muss getan werden?

Wir brauchen eine geordnete Einwanderung. Schaffen wir das? Oder wird die Zahl der brennenden Heime zunehmen? Die Menschen müssen sehen, dass wir es besser machen können, als wir es in den Neunzigerjahren gemacht haben. Es gibt in unserer Gesellschaft viel mehr Menschen als damals, die helfen wollen; es gibt aber auch diejenigen, die überfordert sind, Ängste haben, die in ihrer eigenen Welt bleiben wollen - wenn die Antworten auf die Flüchtlingsprobleme nicht klug ausfallen, wächst uns das über den Kopf. Wir brauchen einen neuen Umgang mit Flüchtlingen, mit ausländischen Arbeitskräften, wir brauchen mehr interkulturellen Austausch.

Das Erste, was Europa angesichts Tausender ertrunkener Flüchtlinge im Mittelmeer eingefallen ist, war die Zerstörung der Schlepperboote .

Das war und ist eine verheerende Ansage. Wenn Menschen keine andere Möglichkeit haben als die Schlepperboote, dann nimmt man ihnen die letzte Möglichkeit, vielleicht doch ihr Leben zu retten. Ich muss den Menschen Möglichkeiten geben, auf legalem Weg nach Europa zu gelangen. Wir müssen den Anteil an legaler Einwanderung erhöhen; wir müssen gestalten. Da gibt es zwei Bereiche: Das ist einmal der Arbeitsmarkt - und das sind zum anderen die humanitären Verpflichtungen. Wir brauchen bei der Aufnahme der Menschen ein Gesamtkonzept. Und wir brauchen insgesamt eine Umsteuerung der Politik: Wir müssen überlegen, in welcher Weise wir den Menschen schon in den jetzigen Fluchtländern helfen: Wie kommen sie dort aus ihrer Not heraus? Das ist eine europäische Aufgabe.

Europa ist derzeit kein Wort, das einen zuversichtlich stimmt.

Ja, es scheint uns zu entgleiten. Europäischen Enthusiasmus haben wir derzeit so gut wie gar nicht, Enttäuschung macht sich breit. Wir müssen uns fragen: Was kann die europäische Union für uns und die Welt leisten, damit es ein Stück mehr Gerechtigkeit gibt? Europa wird nur überzeugen, wenn klar ist: Das Soziale ist genauso wichtig wie das Ökonomische; und das Kulturelle erst recht. Wir brauchen einander, wir brauchen mehr Zusammenhalt.

Da wird Ihnen Helmut Kohl zustimmen. Sie gehörten im Jahr 1989 zu denen, die ihn stürzen wollten - zusammen mit Heiner Geißler, Lothar Späth und Kurt Biedenkopf. Das ist misslungen. Haben Sie Ihren Frieden mit Kohl wieder gemacht?

Ich habe oft dargelegt , warum wir uns damals so verhalten haben: Wir sahen - die deutsche Einheit war ja noch nicht in Sicht - keine Chance mehr für die CDU, die Wahl noch einmal zu gewinnen. Deshalb wollten wir Helmut Kohl eine Aufgabenteilung vorschlagen: Kohl als Kanzler und einen neuen Parteivorsitzenden. Wir haben damals Fehler im Verfahren gemacht: Wir hätten offener und schneller agieren, früher zu ihm hingehen sollen, um ihn, gewiss vergeblich, zum Rückzug vom Parteivorsitz aufzufordern. Wir befanden uns in einem Dilemma. Ja, wir sind mit diesem Projekt gescheitert. Bei Helmut Kohl ist Verbitterung eingetreten. Ich weiche Konflikten nicht aus. Aber es kam zu keinem klärenden Gespräch mehr. Ich hätte mir's anders gewünscht.

Damals waren Sie Bundestagspräsidentin. Sie wurden 1988 zum ersten Mal gewählt, später haben Sie den Umzug nach Berlin organisiert. Niemand außer dem Architekten Norman Foster hatte so viel Einfluss auf das Aussehen des neuen Reichstags wie Sie. Was empfinden Sie, wenn Sie heute vor dem Bauwerk stehen?

Ich bin zufrieden. Sie wissen ja, dass ich nicht für Berlin, sondern für Bonn gestimmt habe, weil ich damals die Herabsetzung von Bonn nicht verstanden habe. Da sage ich heute: Das wurde vom Parlament entschieden und erweist sich als gute Entscheidung.

Die heutige gläserne Kuppel auf dem Reichstag müsste eigentlich Süssmuth-Kuppel heißen.

Architekt Foster hatte eine andere Dachvorstellung, er wollte eine Art Zeltdach, keine Kuppel. Für die Kuppel legte er abwehrende Skizzen vor. Ich nannte das eine Kompott-Hütte und sagte ihm: Wenn Sie diese Skizzen noch öfter vorlegen, gefährden Sie Ihren Auftrag. Ich sage das jetzt spaßhaft. Es kämpfte jeder um seine Vorstellungen, und ich musste ihm sagen, dass wir mit dem Zeltdach nicht durchkommen. Es gab ja auch Forderungen, die alte wilhelminische Kuppel wieder zu errichten. Was dann aus der neuen Kuppel geworden ist - großartig, dass uns das gelungen ist.

Viele Ministerien sind immer noch aufgeteilt und halb in Bonn, mit Außenstellen. Hat das noch Zukunft?

Nein. Wir sind 1998 umgezogen, jetzt haben wir 2015. Die Teilung der Ministerien ist ein heißes Eisen. Die Verlagerung auf Berlin wird und muss kommen.

Von Alice Schwarzer kam Mitte der Achtzigerjahre das Wort "lovely Rita". Später, als Sie in Ihrer Partei auf viel Widerstand gestoßen sind, hießen Sie "lonely Rita".

Ich bin nicht "lovely", aber ich mag die Menschen, bei allen Enttäuschungen, die ich erlebt habe. War ich "lonely"? Ja, immer wieder. Ich habe Ablehnung in meiner Partei erfahren, ich habe viel Fremdheit empfunden, aber auch Unterstützung erlebt. Man fühlt sich oft einsam. Und ich weiß, das gilt nicht nur für mich; das gilt für viele in der Politik. Es sind so wenige, auf die man sich wirklich verlassen, bei denen man ein offenes Wort wagen kann. Trotzdem: Ich habe es nicht bereut, in die Politik gegangen zu sein. Wir können etwas verändern - nicht die Welt, aber die Köpfe und das Handeln.

© SZ vom 08.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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