Reri Grist:Klingt gut

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Als eine der ersten schwarzen Opernsängerinnen hat Reri Grist eine Weltkarriere gemacht. Mit einem Musical fing vor 60 Jahren alles an: bei der Uraufführung von "West Side Story".

Von Verena Mayer

Um zu zeigen, wie sie einmal als Königin der Nacht aus der Versenkung erscheinen sollte und dann unter der Bühne stecken blieb, kriecht Reri Grist unter den Tisch. Dort hebt sie die Arme, so wie seinerzeit in der Vorstellung, als das Orchester spielte, von ihr aber nur die Hälfte zu sehen war, weil der Bühnenaufzug klemmte. Reri Grist ist 85, eine zarte Dame im eleganten Kostüm, die bis vor wenigen Augenblicken an ihrer Teetasse genippt hat. Jetzt kauert sie unter dem Tisch und stimmt nebenbei die Arie der Königin der Nacht an.

Auch sonst ist alles an Reri Grist ungewöhnlich. Als Sopranistin hat sie nicht nur an den großen Häusern gesungen und mit den wichtigsten Dirigenten zusammengearbeitet. Sie war auch eine der ersten afroamerikanischen Sängerinnen, die eine internationale Karriere an der Oper gemacht haben. "O zittre nicht, mein lieber Sohn", singt Grist, während sie sich aufrappelt und zu ihrem Tee zurückkehrt. Eine Frau, die es gewohnt ist, bei jedem Auftritt alles zu geben.

Reri Grist trifft man in Hamburg, wo sie seit vielen Jahren lebt. Sie wohnt mit ihrem Mann in einer Seniorenresidenz am Hafen, zum Interview ist sie in ein Hotel am Bahnhof Dammtor gekommen. Grist begrüßt einen mit heller Stimme, der man anmerkt, dass sie ein Leben lang trainiert wurde, sie spricht Deutsch mit amerikanischem Akzent. Grist zieht gleich mal einen Packen Papier aus ihrer Tasche. Besetzungszettel, ein Programmheft - die Unterlagen ihrer ersten Rolle. Im Musical "West Side Story" war das, sie gehörte zur ersten Besetzung, 1957 am New Yorker Broadway. Darüber wolle sie sprechen, sagt Reri Grist. Weil die "West Side Story" ein Mythos sei. Und weil sie ohne dieses Musical nichts wäre, es gleichzeitig aber so untypisch sei für ihre Karriere als Opernsängerin.

Sie trug ein Sopransolo von Mahler vor. Bernstein sagte: "Du kannst ja wirklich singen."

Bis heute kann man die "West Side Story" immer irgendwo sehen. Die Liebesgeschichte zweier Teenager, deren Gangs sich auf den Straßen von New York bis aufs Blut bekämpfen, gilt als eine der erfolgreichsten Musikproduktionen aller Zeiten, die Lieder daraus sind globale Hits, die in jeder Castingshow geträllert werden, "Tonight", "Maria", "Somewhere". Gerade tourt das Musical wieder einmal um die ganze Welt, von Dubai über Hongkong und Manila nach Tokio und Paris, derzeit ist es in München zu sehen, Anfang 2018 in Köln. Die Aufführung ist modern und professionell, und doch sieht alles aus wie immer, die Tanzschritte, die Kostüme. Das Musical "West Side Story" ist anachronistisch und aktuell zugleich.

Grist tippt auf ein altes Foto. Man sieht sie mit den jungen Tänzern und Sängerinnen von damals vor Mikrofonen zusammenstehen, lächelnd und mit kurzen Locken, auch am New Yorker Broadway war sie schon eine von sehr wenigen schwarzen Frauen. Grist studierte damals Gesang, irgendwann ging sie zu einem Vorsingen für ein Musical. Leonard Bernstein, der Komponist von "West Side Story", gab ihr die Rolle der Consuelo und ließ sie "Somewhere" singen, das Lied, mit dem Grist berühmt werden sollte.

Er habe "den Klang einer jungen, klaren, reinen Stimme" gesucht, sagt Grist, "eine unerfahrene Person, die Hoffnung verkörpert". Sie trat fast täglich auf, an den Wochenenden sogar zwei Mal hintereinander, "der Broadway hat mich gelehrt, dass ich jede Bühne betreten kann und keine Angst haben muss."

Grist kann stundenlang erzählen. Über die Kollegen aus den New Yorker Slums, die schwangere Tänzerin, die bis kurz vor der Geburt auf der Bühne stand und eine Vergewaltigungsszene spielen musste, das Publikum, das ihnen vom ersten Tag an die Türen einrannte. Vor zehn Jahren, zum 50. Jubiläum der Uraufführung, haben sie sich alle wiedergesehen, hochbetagt, einige dement oder im Rollstuhl. Sie gingen dann noch einmal auf eine Bühne am Broadway und sangen ihre Lieder von damals.

Was fasziniert die Leute eigentlich an diesem Musical? Dass es darin um eine allgemeine Wahrheit gehe, sagt Grist, um einen Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Gruppen, wie es ihn überall auf der Welt gibt, ob in China, Abu Dhabi oder Schweden. Und da sei noch der Tanz, den jeder verstehe, weil er all die Aggression, Langeweile und die körperliche Energie von Jugendlichen abbilde. "Da muss etwas raus."

Reri Grist könnte selbst eine Figur aus dem Musical sein. Ihre Eltern lebten im New Yorker Viertel Spanish Harlem, wo Gewalt zwischen Gangs zum Alltag gehörte. Wenn Grist zur U-Bahn ging, dann immer schnell und mit gesenktem Kopf, um nicht aufzufallen. Und sie kann sich noch gut erinnern, wie es war, im Amerika der Rassentrennung aufzuwachsen. Ihre Familie war streng katholisch, aber Grists Bruder durfte wegen seiner Hautfarbe nicht Messdiener sein, und während des Gottesdienstes mussten alle Dunkelhäutigen hinten sitzen.

Musik war hier eine von wenigen Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, und so brachte Grists Mutter ihre Tochter früh auf die Bühne. Mit sieben Jahren sang und tanzte Reri Grist, ihr Talent war so groß, dass eine Lehrerin ihr auch noch Gesangsstunden gab, als die Eltern den Unterricht nicht mehr bezahlen konnten. Eines Tages lief sie zwischen zwei Aufführungen von "West Side Story" vom Broadway zur Carnegie Hall, wo Leonard Bernstein gerade als Dirigent probte. Grist trug noch ihr Kostüm, und sie bettelte Bernstein an, sie doch einmal etwas Klassisches vorsingen zu lassen. Irgendwann gab er nach, sie sang das Sopransolo in Mahlers Vierter Symphonie, und Bernstein sagte: "Du kannst ja wirklich singen."

Es war der Beginn einer beispiellosen Opernkarriere. Bis in die Neunzigerjahre sang Grist die ganz großen Rollen, an der Bayerischen und der Wiener Staatsoper, an der Mailänder Scala, der Royal Opera in London oder der New Yorker Met.

Reri Grist sieht aus, als könne sie es bis heute nicht glauben - vom Musical an die Oper zu kommen, ist schließlich so ungewöhnlich, als würde man von der Tour de France auf die Formel 1 umsteigen. Wie hat sie den Opernbetrieb erlebt, der bis heute als eine der konservativsten Sparten in der Kultur gilt? Wo man schwarze Gesichter meistens nur sieht, wenn jemand Schauspieler schwarz anmalen lässt, an der Oper hat selbst das als rassistisch verpönte "Blackfacing" überlebt. Reri Grist lächelt. Sie spricht nicht über Rassismus, und wenn, dann nur sehr ausweichend. Natürlich habe sie "negative Momente wegen meiner Hautfarbe" erlebt, sagt sie, und sie sei auch nicht naiv. Aber was an der Oper zähle, sei doch das Können. Und die Stimme. Wobei Grist ihre Stimme stets "Instrument" nennt, wie einen kostbaren Gegenstand.

Sie schlüpfte in all die Rollen, die bisher weißen Sängerinnen vorbehalten waren

Ihr Anderssein wurde trotzdem immer zum Thema gemacht, Kritiker bezeichneten sie als "Neger-Sopran" oder als "schwarzes Blondchen". Doch Reri Grist fand einen Weg, das System auszuhebeln. Nicht durch Aktivismus wie andere afroamerikanische Künstler, auch wenn sie das heute bedauert. 1963 beim Marsch auf Washington von Martin Luther King etwa "wäre ich gerne dabei gewesen". Stattdessen spielte und sang sie und schlüpfte mit der größten Selbstverständlichkeit in all die Rollen, die bislang nur weißen Frauen vorbehalten waren.

Wenn man in alten Aufnahmen bei Youtube sieht, wie mädchenhaft-selbstbewusst sie als Zerbinetta in der Strauss-Oper "Ariadne auf Naxos" unterwegs ist, will man sich keine andere Zerbinetta mehr vorstellen. Und man hat sofort diese volle, silberhelle Stimme im Ohr, Grists Instrument.

Wie fand sie es, mit Dirigenten wie Herbert von Karajan oder Karl Böhm zu arbeiten,die während der NS-Zeit Karriere gemacht, die Nähe zu einem rassistischen Regime gesucht hatten? Grist sagt, bei der Arbeit habe sie nie Probleme gehabt, von Böhms Vergangenheit habe sie erst viel später erfahren. Sie ging auf ihre Art damit um: stellte sich hin und sang Wagner. Und zwar in der Oper "Siegfried", in der das germanische Heldentum abgefeiert wird. Auch dieser Auftritt war ein Erfolg.

Grist steht auf und guckt aus dem Fenster des Hotels. Auf das Panorama, das sich unter ihr auftut, den Hafen, das Häusermeer. Sie deutet sofort auf das gezackte Dach der Elbphilharmonie, die Musik ist noch immer ihr erster Bezugspunkt im Leben. Sie geht in Konzerte und in die Oper, letztens trat sie in ihrer Seniorenresidenz auf. Und sie gibt Gesangsstunden. Was rät sie jungen Sängerinnen und Sängern? Verstehen, was man spielt und singt, sagt Reri Grist. Niemanden nachahmen. Und am besten gar nicht erst gucken, was die anderen tun.

© SZ vom 29.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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