Reportage:Die neue Heimat

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Als Provisorium geplant, kein Ende in Sicht: Besuch im jordanischen Flüchtlingslager Azraq, wo die Menschen lernen mussten, aus nichts etwas zu machen.

Von Paul-Anton Krüger

Die Hausnummer von Zakaria al-Sahn und seiner Familie lautet V06/B02/P08/S08. Sie ist auf einem weißen Plastikschild mit dem blauen Logo des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR gedruckt. Die schwarzen Buchstaben stehen für englische Abkürzungen: Dorf sechs, Block zwei, Abteilung acht, Hütte acht.

Alle Hütten im Lager Azraq haben eine solche Nummer, alle sehen gleich aus: weiße Wellblech-Wände, vier auf fünf Meter, ein Klappfenster mit Gitter, ein Giebeldach, auch das: aus weißem Blech. Davor eine Laterne mit Solarzelle. Es gibt keinen Strom hier. Wenn es dunkel wird, sind LED-Funzeln das einzige Licht.

Immer je sechs Hütten auf den beiden Seiten einer kleinen Querstraße, zwei Klos und zwei Duschen, das ist die Abteilung. Zehn davon pro Block, zwanzig Blöcke pro Dorf. Zehn Dörfer soll das Lager einmal haben, auf 14,7 Quadratkilometern. 100 000 Syrer könnten in Azraq Platz finden, derzeit leben knapp 35 000 hier.

Auf einer Anhöhe stehen Wassertanks aus Aluminium, hier ist das Lager in seiner ganzen Ausdehnung zu sehen. Hunderte, Tausende Hütten, geometrisch über sanfte Hügel verteilt. Wie weiße Schaumkräusel auf ockerbraunroten Wellen. Ein Meer aus Blechkisten in der Wüstenlandschaft im Norden Jordaniens.

Es gibt keine Bäume, kein Grün, an dem sich das Auge zwischen dem Geröll festhalten könnte, und auch sonst keine Farbtupfer. Nur braunrot und weiß bis zum Horizont; der Wind pfeift, spielt mit dem feinen Sand, der wie braunes Mehl auf den Dächern liegt. Um das Gelände ein meterhoher Zaun. Dahinter Dutzende Kilometer: nichts. "Es gibt hier mehr Sand und Steine als menschliche Kontakte", entfuhr es Bundespräsident Joachim Gauck, als er im Dezember 2015 das Lager besuchte.

Zakaria al-Sahn, 49, und seine Frau Fatma Abdelmajid, 46, sind am 22. Juni 2014 in diese Einöde gekommen, das Camp war da gerade sieben Wochen offen. "Es gab hier kein Leben", sagt Fatma Abdelmajid, "es gab nicht einmal Insekten." Sie sind aus Jassim geflohen, einem Städtchen mit 30 000 Einwohnern im Süden von Syrien, in der Provinz Daraa. Es gab dort früh Proteste gegen das Regime von Baschar al-Assad. Bald folgten die Bomben. Gegangen sind sie der Kinder wegen. In Syrien irrten sie von Unterschlupf zu Unterschlupf, sicher waren sie nirgends. Die Älteste, Ghadir, ist 14 und will Ingenieurin werden. "Ich will helfen, Syrien wieder aufzubauen", sagt sie. Ihr Bruder Hamouda ist 13, Leinur sieben. Die Jüngste wedelt mit einer gelben Pappkarte herum. Es ist ihr erstes Zeugnis. Sie ist in Azraq in die Schule gekommen, es ist das erste Mal, dass sie bewusst so etwas wie Alltag und Normalität erlebt. "Wir waren so froh, dass wir endlich wieder ohne Sorge um unser Leben schlafen konnten", sagt ihre Mutter, eine kräftige Frau, die ein buntes Kopftuch zum schwarzen Gewand trägt und ihre Sätze mit den Händen untermalt. "Die Kinder haben immer gezittert vor Angst, wenn die Flugzeuge kamen." Leinur hatte wieder angefangen, sich in die Hose zu machen.

"Wir hatten ein schönes Haus in Syrien", sagt ihr Mann, braunes Hemd zu blauen Jeans. Er streicht über den Schnurrbart und zündet sich eine neue Zigarette an. Er war Fotograf mit eigenem Studio, sie betrieb einen Schönheitssalon. Morgens, wenn die großen Kinder aus dem Haus waren, haben sie auf dem Balkon zusammen eine Zigarette geraucht, ihre Blumen angeschaut und laut Fairuz gehört, die libanesische Sängerin. Als sie hierherkamen, hatte ihre Hütte nicht einmal eine Bodenplatte.

Der Beton wurde erst hineingegossen, da wohnten sie schon sechs Monate darin, die Spritzer an den Blechplanken zeugen davon. Davor hatten sie nur Planen, Matten, um die spitzen Steine zu bedecken. Azraq ist ein Flüchtlingslager vom Reißbrett, ein Jahr hat die Planung gedauert. Aber diese Planstadt im Nirgendwo soll nicht von Dauer sein. Deswegen wurde sie erst ohne Zement errichtet. Ein Provisorium, als solches erdacht. Auf dem blanken Wüstenboden aber konnte niemand leben, nicht auf längere, vielleicht unabsehbare Zeit.

Dünne Schaumstoffmatratzen am Boden waren anfangs die einzigen Einrichtungsgegenstände - und ein paar Decken. Nachts schlafen sie darauf, tags dienen sie zum Sitzen. 20 Quadratmeter müssen reichen für bis zu sechs Personen. Privat- oder gar Intimsphäre? Gibt es nicht. "Ich habe meine Frau nicht mehr berührt, seitdem wir hier vor einem Jahr angekommen sind", sagt ein anderer Bewohner. Zakaria al-Sahn hat einen Draht quer durch die Hütte gespannt; sie können sie abteilen mit einer Decke. Hinten schlafen die Kinder, vorne die Erwachsenen. Man hört jedes Geräusch. Auch von den Nachbarn.

Es dauerte zwei, drei Monate, bis ihnen bewusst wurde, dass sie wohl länger würden bleiben müssen in dieser Blechhütte. Dann haben sie angefangen, sich einzurichten in dem Provisorium. "Wir haben unser geliebtes Syrien verloren, aber es kommt auch nicht zurück, wenn wir uns ständig selber bemitleiden", sagt Zakaria al-Sahn. Also planten seine Frau und er, wie sie ihren Platz im Nirgendwo zu einem Zuhause machen und ihrem Leben wieder Sinn geben könnten - "Not macht erfinderisch", sagt Fatma Abdelmajid.

Aus einem Tomatenkern wuchs eine Staude, die sie seither pflegen wie einen Schatz

Zakaria al-Sahn begann die Reste von silbern beschichteten Schaumstoffmatten zu sammeln, Isolierung für die Dächer. Er band sie mit Draht zu niedrigen Sesseln zusammen, bastelte einen Lampenschirm, der das kalte weißblaue Licht der LEDs erträglicher macht. Und Regale, die mit Edding gemalte grüne und rote Ornamente tragen. Ihre bescheidene Habe haben sie mit Decken und Matten zugehängt: Töpfe, Geschirr und Gaskocher, die zur Grundausstattung der Hütten gehören, ihre Kleidung. Nur die Kopftücher von Fatma und Ghadir sind zu sehen, 24 Stück, nach Farben sortiert, in einem Halter aus Metallkleiderbügeln und Paketschnur.

Auch die Familie von Zakaria al-Sahn hat hier eine Bleibe gefunden. (Foto: Paul-Anton Krüger)

"Allahu Akbar" steht in Grün und in Gelb an der Stirnwand, Gott ist der Größte. Auf einem kleinen Brett, seinem Ehrenplatz, liegt der Koran. Sie sind keine Islamisten, keine Radikalen, aber sie haben einen tiefen Glauben. Gott hat alles für sie vorherbestimmt, so sehen die Eltern ihr Schicksal. Ihm und ihren Kindern seien sie es schuldig, das Beste daraus zu machen.

Das Wasser müssen sie in Kanistern von den Verteilstellen herschleppen. Aus einem Tomatenkern im Spülwasser wuchs eine neue Staude, die sie seither pflegen wie einen Schatz. Das brachte sie auf die Idee, etwas zu pflanzen. Heute ziert ein kleiner Steingarten den Eingang zu ihrer Hütte. Götterbäume wachsen auf dem kargen Boden, daneben Salbei und - wichtig - wilder Thymian. Daraus machen sie Zaatar, eine Gewürzmischung, die typisch ist für die syrische Küche. "Wir waren so froh, als wir den ersten Vogel gesehen haben auf unserer Hütte", sagt Fatma Abdelmajid.

In Azraq sollten all die Fehler vermieden werden, in die man in Zaatari hineingelaufen war, dem anderen, dem größten Flüchtlingslager in Jordanien. Es war unkontrolliert vor sich hingewachsen, weil im Juli 2012 auf einmal täglich Tausende Syrer über die nahe Grenze nach Jordanien strömten. Zwischenzeitlich drängten sich dort mehr als 125 000 Menschen auf gut fünf Quadratkilometern. Zuerst notdürftig in Zelten, inzwischen wohnen auch hier die Menschen, 80 000 sind es noch, in vorgefertigten Containern, gespendet meist von den Golfstaaten. Überall im Lager sieht man das grüne Logo Saudi-Arabiens mit den gekreuzten Säbeln.

Es war Chaos, aber die Syrer improvisierten. Schnell entstanden Geschäfte, es sind mehr als 3000 heute, in denen es fast alles gibt: knusprige Falafel, Hummus und Foul, der Morgen duftet hier wie früher in den engen Gassen syrischer Städte. Frisches Gemüse, Kräuter und Tee, Chips und Cola, Friseursalons und Fahrradwerkstätten. Es gibt Parfüm- und Handyläden, man kann Fernseher kaufen und Tauben. Es gibt auch Brautkleider, in Orange oder Grün oder Rot oder klassisch in Weiß. Wer nicht genug Geld hat, kann die meisten auch mieten, die Preise dafür fangen bei 15 jordanischen Dinar an, umgerechnet 18 Euro, das Top-Modell mit viel Glitzer steht für umgerechnet 125 Euro zum Kauf. Viel Geld, die Flüchtlinge bekommen vom UNHCR nur 20 Dinar pro Kopf und Monat. Manchmal gibt es ein Dutzend Hochzeiten am Wochenende, sagt der Besitzer des Ladens.

Container aus dem "braunen Block" im Lager Zaatari zeigen Motive aus Syrien. (Foto: Paul-Anton Krüger)

Offiziellen Besuchern und Journalisten wird die Straße gerne gezeigt. Ärzte einer französischen Hilfsorganisation hatten sie Scham Elysées getauft; ein Wortspiel, das den Pariser Einkaufsboulevard verbindet mit einer alten Bezeichnung für Syrien, die Levante oder auch Damaskus. Viele Gäste verstanden den Witz nicht, dachten, es sei tatsächlich von den Champs-Elysées die Rede, ohne den Zynismus zu bemerken angesichts der aus Wohncontainern zusammengezimmerten Läden. Die Syrer fühlten sich beleidigt. "Das ist immer noch ein beschissener Ort, den vergleichst du nicht mit unserem Syrien, mit Damaskus, mit unserer Heimat", sagt einer der Händler.

Die Wege zwischen den Containern verwandeln sich bei Regen noch immer in Minuten in knöcheltiefen, rötlichen Matsch. Sie erzwangen mit Protesten, dass das Straßenschild entfernt wurde; sie redeten seit jeher nur vom Souq, dem Markt. "Wir arbeiten, um unsere Kinder zu ernähren und nicht verrückt zu werden", sagt ein Händler. "Was sollen wir sonst Tag für Tag tun? Wofür ist unser Leben sonst noch gut?"

Keines der Geschäfte hatte eine Genehmigung, niemand zahlte Steuern, es kam zu Konflikten und Rangeleien, das Lager galt eine Zeitlang als gefährlich. In Azraq gab es deswegen lange keine Stände, nur einen einzigen Supermarkt, wo die Syrer mit Wertkarten einkaufen konnten; die 20 Dinar pro Person reichen nicht, auch weil die Preise zum Teil über denen liegen, die Jordanier in Amman zahlen. Jetzt gibt es auch in Azraq einen Markt, 100 Geschäfte für Syrer und 100 für Jordanier, alles ordentlich bewilligt - nur wirklich glücklich sind die Leute damit auch nicht. In Azraq hat man oft das Gefühl, die Menschen sind nie wirklich angekommen. Zaatari haben die Bewohner früh in Besitz genommen.

Aus Wohncontainern sind mancherorts kleine Familienanwesen geworden, mit abgeschirmtem Innenhof, in dem Kinder tollen und Frauen sich freier bewegen können. Fast alle tragen Kopftuch, manche Niqab, den Gesichtsschleier. Verwandte aus drei, vier Familien leben zusammen. Auch hier sind Gärten. Und es entstehen Bilder auf den Containern, ein Projekt einer Hilfsorganisation. Zeitvertreib, Beschäftigung und Einkommensquelle zugleich; syrische Künstler haben die Motive entworfen.

Khedive al-Nabulsi mit einer Klappkarte, wie er sie Ban Ki-moon überreicht hat. (Foto: Paul-Anton Krüger)

Jeder Block in dem Lager wird in einem anderen Farbschema verziert, mit einem anderen Thema. Gerade pinselt ein Dutzend junger Männer mit Lackfarben Bilder zu Gesundheit und Hygiene an die Metallwände; grün dominiert. Es gibt den blauen Block, da geht es um Wasser. Und den braunen. Den Menschen hier ist er der liebste, sagen die Maler. Er zeigt das Leben in Syrien, Sehenswürdigkeiten dieses Landes, nach dem die Menschen sich sehnen; manche sind vom Krieg zerstört worden.

Sie versuchen, ihr Kulturerbe und die Bräuche zu bewahren, auf die alle Syrer stolz sind

Es ist ein Versuch, nicht zu vergessen, das reiche Kulturerbe und die Bräuche zu bewahren, auf die alle Syrer stolz sind. Das ist es auch, was Khedive al-Nabulsi antreibt und seine Gruppe, Künstler in Zaatari. Als der 60-jährige Maschinenbauer vor vier Jahren in Zaatari ankam, gab es keine Farben, keine Stifte, keine Pinsel. Brot und Decken waren wichtiger. Aber bald fing er an, aus Zigarettenasche, Blättern und anderem Farben zu mischen, Zigarettenfilter als Pinsel zu benutzen. Khedive Nabulsi sitzt im weißen Unterhemd und mit schwarzen Hosenträgern am improvisierten Schreibtisch; er strahlt Warmherzigkeit aus. "Mir ist egal, wer recht hat, das Regime oder die Rebellen", sagt er. "Ich bin Patriot, mir geht es nur um mein Land."

Khedive al-Nabusli und ein paar andere Künstler haben angefangen, Modelle zu bauen, aus Streichhölzern, Karton, Styropor und Ton, geschnitzt mit Skalpellen. Die Zitadelle von Aleppo, die Norias von Hama, hölzerne Schöpfräder, die seit dem 4. Jahrhundert Wasser aus dem Orontes in Aquädukte schaufeln. Die berühmten Ruinen von Palmyra, die Umayyaden-Moschee von Damaskus. "Als wir hierhergekommen sind, hatten wir schon unser Land verloren", sagt Khedive al-Nabulsi, "aber wir haben es in unseren Köpfen, in unserer Erinnerung." In seinem Dorf, auf einer Anhöhe gelegen, lebten Christen und Muslime zusammen, erzählt er. Das Regime bombardierte sie, weil von dort aus ein Stützpunkt der Armee bei Izraa einzusehen war. Es war im Mai 2012. Khedive Nabulsi hat sein Haus noch einmal mit dem Fernglas gesehen, es war beschädigt und geplündert. Seine Schatzkammer. Er hatte alte Werkzeuge gesammelt und landwirtschaftliche Geräte. Die ganze Familie floh.

Khedive hat sich einen kleinen Kanarienvogel gekauft. Das tröstet ihn

Er hat in Aleppo studiert, die Zitadelle hat er zusammen mit seinem Sohn gebaut, und die Wasserräder, ein Wunderwerk der Ingenieurskunst. Ein Elektromotor treibt sie an mit einem Riemen über eine alte Fahrradfelge. Es gab eine Ausstellung im Lager und eine in Mafraq, der nächsten Stadt; auch UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat sie besucht. Khedive Nabulsi ist seither eine kleine Berühmtheit im Lager. Er überreichte Ban eine überdimensionale Klappkarte. Darin faltet sich ein Zelt auf, genau wie jene, in denen das UNHCR die Syrer anfangs unterbrachte. Viele Besucher kamen, viele Syrer weinten.

Auch Khedive Nabulsi kämpft jetzt mit den Tränen; sein Enkel, gerade ein bisschen mehr als ein Jahr alt, kommt fröhlich brabbelnd durch die Tür gekrabbelt. "Ich habe immer Hoffnung, aber für mich gibt es keine Zukunft mehr in Syrien", sagte der Großvater. "Vielleicht auch nicht für meinen Sohn, aber für meinen Enkel."

Manche Syrer haben nie ihre Koffer ausgepackt, so sie denn welche mitnehmen konnten, haben nie etwas an ihrem Container verändert, damit sie nie den Gedanken aus dem Kopf verlieren, morgen zurückzugehen, wenn es die Möglichkeit dazu gibt. Khedive Nabulsi würde das nicht aushalten. Er hat sich einen kleinen Baum gebastelt, aus einem armdicken Ast und Plastikblättern aus China. "Ich wünschte, ich hätte Holz aus Syrien mitgebracht", sagt er, "oder ein bisschen Erde." Wie in Syrien hat er sich einen kleinen Kanarienvogel gekauft, der neben dem künstlichen Baum in seinem Käfig zwitschert. "So war es bei uns zu Hause", sagt er. "Ich musste wieder eine Vogel haben." Das tröstet ihn.

Wie er haben sich Zakaria al-Sahn und Fatma Abdelmajid ihr Stückchen Syrien in Azraq geschaffen. Morgens, wenn die Kinder aus dem Haus sind, legen sie ein Handy in den ausgedienten Plastikschirm der LED-Funzeln; Fairuz singt so zwar blechern, aber wenigstens laut. Sie zünden sich dann eine Zigarette an und schauen ihre Tomate an und ihren kleinen Garten.

© SZ vom 08.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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