Reportage:Apfel um Apfel

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Mals in Südtirol ist seit 2014 die erste pestizidfreie Gemeinde Europas. Seitdem ist ein ganzes Tal zerstritten. Es wird gedroht, geklagt und vergiftet.

Von Julia Rothhaas

Seltsam, dachte Ägidius Wellenzohn Anfang September beim Mähen unter seinen Apfelbäumen, warum ist das Gras in dieser Reihe bloß so gelb? Eine Woche später, kurz vor der Ernte, waren sogar die Blätter am Baum braun. Am nächsten Tag rief die Genossenschaft an. Die Rückstandsprobe hatte ergeben, dass die Hölzer mit Glyphosat besprüht worden waren, hoch dosiert, bis zu den Spitzen hinauf. Das Unkrautvernichtungsmittel kommt üblicherweise nur am Boden zum Einsatz. Noch seltsamer: Der Biobauer aus dem Vinschgau hat das Gift seit über 30 Jahren nicht mehr benutzt.

Mit den grauen Locken im Pferdeschwanz und seiner zarten Statur passt Wellenzohn eher in den Bioladen als auf den Bioacker. Der 52-Jährige ist so etwas wie der Vorzeigebauer Südtirols, er benutzt nicht mal biologische Pflanzenschutzmittel, eine Ausnahmeerscheinung. Von seinen Apfelbäumen muss er jetzt 500 Stück fällen und entsorgen. "Ernten kann ich erst wieder in zwei, drei Jahren." Die Glyphosat-Attacke wird ihn über 20 000 Euro kosten.

Die vergifteten Apfelbäume sind der Höhepunkt in einem Drama, das ein ganzes Tal in Atem hält. Die Bewohner von Mals im Vinschgau hatten 2014 dafür gestimmt, Europas erste pestizidfreie Gemeinde zu werden. Seitdem kracht es. Auge um Auge, Apfel um Apfel: Glyphosat und Co. haben die Bevölkerung gespalten.

Man beschimpft einander, droht, verklagt. Auch außerhalb von Mals. Familien werden vom Dorfleben ausgeschlossen, dem Sprecher der Anti-Pestizid-Bewegung wurde das elterliche Grab geschändet, Ägidius Wellenzohn nun die Ernte zerstört. Das passt so gar nicht zu der Postkartenidylle, für die diese beschauliche Region sonst steht. Und gerade als man dachte, beide Lager hätten sich ein wenig beruhigt, erschien auch noch "Das Wunder von Mals", ein Film, der stark polarisierte, weil er einseitig die Entscheidung gegen die Pestizide verteidigte. Doch davon später.

Kaum eine Wiese ohne Apfelbaum: Ein Blick ins Tal nahe Latsch über die Vinschgauer Obstanlagen. (Foto: Mario Wezel)

Der Zwist von Mals spiegelt im Kleinen den erbitterten Kampf, der seit Jahren europaweit geführt wird, über die Frage: Sind Pestizide wirklich notwendig für den Anbau von Lebensmitteln? Im Ring stehen sich Umweltaktivisten und Bauern gegenüber. Die einen machen die Mittel für eine mögliche Krebsgefahr und das Insektensterben verantwortlich. Die anderen können nicht nachvollziehen, warum staatlich zugelassene Mittel plötzlich so schädlich sein sollen. Und die Verbraucher? Sitzen verunsichert auf der Tribüne. Sie haben schon vor Jahren den Überblick verloren.

Obwohl es mehrere hundert zugelassene Pflanzenschutzmittel gibt, konzentriert sich der Zorn vor allem auf Glyphosat. Sehr wirksam und günstig: Das Herbizid galt lange als Wunderkind. Mit wachsendem Verbraucherbewusstsein kamen jedoch Zweifel auf, inwieweit sein Einsatz Mensch und Umwelt schadet. Eine Studie deklarierte es als "wahrscheinlich krebserregend", andere Experten widersprachen.

Viele Analysen später wurde schließlich noch bekannt, dass der Hersteller Monsanto versucht hatte, Wissenschaftler zu manipulieren. Da waren weder Agrarwirtschaft noch Politik mehr imstande, die Bevölkerung zu beruhigen. In diesem Jahr dann verhandelte die EU-Kommission monatelang über die weitere Zulassung des Pflanzengifts, bis man sich am vergangenen Montag, kurz vor Ablauf der Konzession, auf weitere fünf Jahre einigte. Der deutsche Landwirtschaftsminister hatte im Alleingang für eine Verlängerung gestimmt. Gegen die ausdrückliche Ansage der Bundesumweltministerin, gegen die Geschäftsordnung des Kabinetts. Die deutsche Stimme war entscheidend.

Während also Brüssel Ja gesagt hat, sagt Mals Nein. Im April 2018 endet die Umstellungszeit von chemischen auf biologische Pflanzenschutzmittel. Danach dürfen auf den Feldern rund um Mals und seinen neun Ortsteilen laut Bürgerbeschluss "keine giftigen und sehr giftigen Pestizide" mehr ausgebracht werden.

Mals liegt weit abseits von Brüssel im Westen Südtirols, eine halbe Autostunde hinter dem Reschenpass. Von hier aus kann man auf den Ortler gucken, auf die Ötztaler Alpen und weit über die Malser Haide, Wiesen und Felder, von alten Bewässerungsgräben durchzogen. Mittelalterliche Türme, enge Gassen, kleine Steinhäuser. Im November herrscht tote Hose im Idyll, die Wintersaison hat noch nicht angefangen, genug Zeit also, um vormittags gemütlich beim "Grauen Bär" zu sitzen, erst eine Tasse Kaffee, dann ein Glas Wein. Drei Viertel der 5 000 Bewohner großen Gemeinde haben vor drei Jahren für das Verbot gestimmt, aber abgesehen von den Wortführern der Anti-Gift-Bewegung wollen viele das Wort "Pestizide" nicht mehr hören. Ja, sie waren dafür. Aber sie waren in den vergangenen Jahren auch für mehr Dorfbusse, für Wasserkraftwerke, Photovoltaik-Anlagen und Gratis-Tankstellen für E-Autos. Jetzt muss auch mal gut sein mit dem Thema.

Mals gegen den Rest der Welt, wo noch fröhlich Pestizide eingesetzt werden? Der Konflikt ist komplizierter. Die Einwohnerschaft hat abgestimmt, betroffen sind aber die wenigen Bauern im Ort. Sie wollen sich nicht von landwirtschaftlichen Laien vorschreiben lassen, wie sie zu arbeiten haben. Sie fühlen sich bevormundet und haben einen Protest-Verein gegründet, weil sie Ernteausfall befürchten, so lange es keine für sie adäquaten Alternativen zu den chemischen Pflanzenschutzmitteln gibt.

Ob die Abstimmung wirklich legal war, muss das Oberlandesgericht noch entscheiden. Dem Ausgang des Verfahrens sieht Ulrich Veith, der Bürgermeister, zuversichtlich entgegen. "Die Zeit hat für uns gespielt, Pestizide sind ein Riesenthema." Er will die Gesundheit seiner Bürger schützen, notfalls auch mit juristischen Schritten. "Dass Pflanzenschutzmittel schädlich sind, ist aus meiner Sicht fast erwiesen."

Oben klassisch italienisch mit schmal geschnittenem Hemd, unten ganz der Südtiroler mit dicken Bergstiefeln, in denen er jederzeit losstapfen könnte: Der 47-Jährige ist im Ort beliebt, von seinem Schreibtisch aus hat er Mals immer fest im Blick. Schon bald nach seiner Wahl im Jahr 2009 fing der Streit um den Einsatz von Pestiziden an. Er hängt zunächst einmal mit der besonderen Lage von Mals zusammen. Im mittleren und unteren Vinschgau breiten sich seit Jahrzehnten auf viel Raum riesige Apfelbaumplantagen aus. Südtirol ist das größte Apfelanbaugebiet Europas, alleine im 80 Kilometer langen Vinschgau wurden in diesem Jahr mehr als 270 000 Tonnen geerntet. Im Obervinschgau, wo das Tal immer schmaler und die Parzellen immer kleiner werden, gab es diese Form des intensiven Obstanbaus lange nicht. Doch als unten kein Platz für Obstbäume mehr war, suchten sich die Produzenten neue Flächen. Bis sie Mals erreichten.

Und so kam mit neuen Nachbarn ein neues Problem: der Abdrift. Der Sprühnebel der Pestizide kennt keine Grundstücksgrenze, er landet auch auf dem Feld nebenan. Auf der weiten Ebene gab es kaum Probleme. Viele Bauern tragen die Mittel nur bei Windstille aus und halten genug Abstand. Doch auf der Malser Haide mit ihren vielen Mini-Parzellen und dem stärker wehenden Wind half das nicht. "Wir haben mehr als 30 Meter über die Feldergrenze hinaus Gift-Rückstände gefunden", sagt Ulrich Veith. "Das geht natürlich nicht." Anfangs sei er sicher gewesen, dass man zusammen mit den Bauern eine Lösung finden könne. Äcker wurden getauscht, eine Broschüre über fairen Umgang untereinander wurde gedruckt. Aber es kam immer wieder zu Streit. Schließlich ließ Veith die Bürger 2014 abstimmen.

Im November tauchte Alexander Schiebel auf. Der österreichische Filmemacher lebte zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren in Südtirol. Als er von dem Votum gegen die Pestizide erfuhr, war er davon so begeistert, dass er sofort mit den Recherchen für einen neuen Film begann. "Das Wunder von Mals" schildert die Ereignisse - wie das spätere gleichnamige Buch - ausschließlich aus der Perspektive der Befürworter. Die Gegner des Verbots kommen praktisch nicht zu Wort. Kein Wunder, dass Schiebel für vieler Malser eine Art Held geworden ist. Arnold Schuler, Landesrat für Landwirtschaft und Mitglied der konservativen Südtiroler Volkspartei (SVP) sieht das völlig anders. Dem Autor sei es nur um den Konflikt gegangen. Schiebel habe ihm gegenüber mehrfach zugegeben, dass ihn das Thema Pestizide nie groß interessiert habe.

Arnold Schuler hat seinen Rundgang über die Agrialp, eine Bozener Landwirtschaftsmesse, gerade beendet, jetzt sitzt er nebenan im Restaurant. Er hat sich Verstärkung mitgebracht, drei junge Männer, zwei davon sind Wissenschaftler. Er will für das Gespräch gewappnet sein. Denn längst hat das Thema die Grenzen von Mals und sogar Südtirols verlassen. David gegen Goliath, ein kleiner Ort, der sich gegen den Rest des Tals und die Großen der Welt auflehnt: Das ist spektakulär. In den Zeitungen war vom "Apfelkrieg" die Rede und den "Pestizid-Rebellen", sogar ein Fernsehteam aus Japan schaute vorbei.

Kurz nach der Veröffentlichung von "Das Wunder von Mals" erreicht der Konflikt auch die deutsche Öffentlichkeit. Zum Protest reisten Umweltaktivisten mit weißen Schutzanzügen und Gasschutzmasken ins Tal, dann provozierte das Münchner Umweltinstitut mit einer Plakataktion am Stachus: "Südtirol sucht saubere Luft. Südtirol sucht sich." Das reichte in Bozen für eine Strafanzeige wegen übler Nachrede. Spätestens seit dieser Aktion fragen sich die Bauern: Warum stehen eigentlich nur wir im Visier? Was ist mit den Kollegen in anderen klassischen Apfelanbauregionen wie dem Alten Land oder am Bodensee?

Der Südtiroler Landesrat für Landwirtschaft reibt sich die Augen, er sieht müde aus: Im Herbst finden die meisten Bauernversammlungen statt, im nächsten Jahr wird neu gewählt, und dann noch die Aufregung um die Pestizide. "Uns hat die Intensität dieser Diskussion überrascht", sagt der 55-Jährige. "Wir haben gedacht, die Menschen wüssten, wie Landwirtschaft funktioniert. Wir haben uns geirrt." Er würde die Zeit gerne zurückdrehen, dann wäre vieles anders gelaufen, da ist er sich sicher. "Gegen Giftwolken und Totenköpfe auf Transparenten kommt man mit Fakten nur schwer an, dabei sind wir hier doch auf einem guten Weg."

Südtirol habe schon auf eine stärkere Ökologisierung der Landwirtschaft gesetzt, als davon anderorts noch gar keine Rede war. Giftrückstände auf Obst oder Gemüse? Nur in minimaler Dosis erlaubt, da stehe man in Europa an der Spitze. Und statt wie so häufig in der Landwirtschaft Pestizide zu spritzen, verwirre man die Schädlinge lieber: Damit die männliche Obstmade das Weibchen nicht mehr findet, werden Duftstoffe an den Baum gehängt. Keine Begattung, kein Nachwuchs, kein Schaden. Keine Pestizide. Was aber nicht heißt, dass die Bauern komplett auf Fungizide, Insektizide und Herbizide verzichten.

Arnold Schuler ist selbst Obstbauer, er hat seinen Hof in der Nähe von Meran. Natürlich habe man Fehler gemacht. "Wir müssen uns weiterentwickeln, keine Frage. Aber wir Landwirte sind die ersten, die den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln reduzieren möchten." Als Vergifter will er sich und andere nicht verunglimpfen lassen. Man wolle doch nicht alles zerstören, was man sich auf seinen Feldern aufgebaut habe. Außerdem: Die meisten Bauern führen Kleinstbetriebe, sie leben direkt neben ihren Feldern. Familie Schuler hat auf ihrem Grund drei Kinder groß-gezogen, wem schade man da wohl als Allererstem?

Der ganze Ärger hat immerhin einiges bewegt, die Landwirte sind vorsichtiger geworden. Auf Flurbegehungen des Bauernbundes können sie sich ein Bild von der Abdrift-Problematik machen. An das Sprühgerät am Traktor kommen unterschiedliche Düsen, die Landwirte laufen hinterher und können dadurch sehen, wohin der Nebel zieht. Wer als Mitglied des Bauernbundes ab 2018 freiwillig auf Glyphosat verzichtet, erhält 120 Euro Aufwandsentschädigung pro Hektar.

Vor zwei Wochen wurde sogar ein Konzept vorgestellt, das vorsieht, sämtliche Bioflächen bis 2025 zu verdoppeln. Einer Umfrage zufolge können sich 60 Prozent der Bauern eine Umstellung durchaus vorstellen. Das hat vor allem wirtschaftliche Gründe: Ein Bioapfel macht zwar mehr Arbeit, bringt aber auch mehr Ertrag. Denn bei allen guten Vorhaben darf man eines nicht vergessen: Natürlich geht es hier um Geld. Allein die Vinschgauer Genossenschaften haben in diesem Jahr 209 Millionen Euro Umsatz gemacht mit Golden Delicious, Gala und Braeburn.

Und in Mals? Bürgermeister Ulrich Veith wird bald kontrollieren müssen, ob auf den Feldern nach wie vor Pestizide landen. Fallen die Proben positiv aus, will er die Bauern anzeigen. Biobauer Ägidius Wellenzohn hingegen setzt jetzt auf Hanf, der soll helfen, den geschädigten Boden zu regenerieren. Ob er Lust hat, wieder Apfelbäume zu pflanzen, weiß er noch nicht.

© SZ vom 02.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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