Porträt:Eine für alle

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„Das Publikum soll sich nicht mit mir identifizieren, sondern mit der Figur, die ich spiele“: Toni Collette, Australierin, Schauspielerin, Verwandlungswunder. (Foto: Getty)

Toni Collette spielt gern extreme Frauen. In "Hereditary" ist sie wirklich der blanke Horror. Dabei wirkt sie unglaublich bescheiden

Von Tanja Rest

Es kommt ein Moment der Ratlosigkeit in diesem Gespräch. Man hat zu diesem Zeitpunkt bereits alle verfügbaren Eitelkeitsknöpfe gedrückt, ohne greifbares Ergebnis. Ob es sie störe, dass sehr viele Menschen ihre Rollen kennen, nicht aber ihren Namen? "Im Gegenteil, ich sehe das als Kompliment! Das Publikum soll sich ja nicht mit mir identifizieren, sondern mit der Figur, die ich spiele. Alles andere wäre verwirrend." Aber ist es nicht der Traum jeder Schauspielerin, dass die Leute auch ein wenig wegen ihr ins Kino gehen? "Ach, nein. Dieses Star-Ding interessiert mich einfach nicht." Man hat sie nach Werbeverträgen und Cover-Shootings gefragt (nichts Nennenswertes) und zuletzt raffinierterweise einen Satz aus der New York Times vorgelesen: "Mrs. Collette ist es wert, nahezu jeden Film zu sehen, dabei hat sie keine Faser Eitelkeit im Leib." Stimmt das denn?

Interessant jetzt: ihr innerer Kampf. Toni Collette, 45, Oscar-Nominierte, Kritikerdarling, australisches Nationalheiligtum seit "Muriels Hochzeit", zehn weitere große Leinwand-Hits locker auf ihrem Konto, ist in der Bredouille. Denn zu bestätigen, dass sie uneitel ist, wäre jetzt natürlich die Eitelkeit schlechthin. Sie druckst dann heraus, dass sie so eitel sei wie alle Menschen - was jedoch ihre Arbeit angehe, vielleicht... wirklich... nicht so sehr. "Als ich Schauspielerin geworden bin, ging es mir vor allem darum, mich auszudrücken. Es gab da auch einen Schlüsselmoment."

Sie war 13, konnte schon singen und tanzen und hatte eine Rolle im Schul-Musical bekommen. "Godspell", die Geschichte von Jesus und seinen Jüngern. Wochen vor der Aufführung war ihre geliebte Großmutter gestorben, und sie hatte nicht weinen können, sie hatte nicht gewusst, wie. Dann ihr Auftritt. Sie sollte trauern. Um Jesus. "Und in diesem Moment ist mein ganzes Elend hochgekommen. Ich stand in unserem Schul-Musical laut schluchzend auf der Bühne, können Sie sich das vorstellen? Dem Publikum war extrem unbehaglich zumute." Sie rollt mit den Augen und lacht.

Toni Collette gelingt, was die meisten Stars immer nur behaupten: Sie verschwindet ganz und gar in ihren Rollen (welche emotionalen Reservoirs sie dabei anzapft, will man im Einzelfall lieber nicht so genau wissen). Das geht so weit, dass man am Interviewtag in einer Hotelsuite im Londoner Stadtteil Covent Garden sitzt und nicht weiß, was für eine Frau gleich zur Tür hereinkommen wird. Ist sie aktuell schlank oder eher rund? Blond oder brünett? Hat sie lange, kurze oder vielleicht auch gar keine Haare, da sie sich schon vier Mal für eine Rolle den Kopf geschoren hat? Wird sie so herzerwärmend lustig sein wie in ihren Komödien oder so neurotisch wie in ihrem neuen Film "Hereditary"? - Toni wer?, haben die Freunde in München gesagt.

Tatsächlich weiß man selbst erst seit ein paar Jahren, dass eine Frau namens Toni Collette existiert. 2014, in der Tragikomödie "A Long Way Down", stand sie verhärmt und abgekämpft neben Pierce Brosnan auf einem Hochhausdach und wollte springen. Der Film war unglaublich schlecht, die Frau aber anrührend und noch dazu seltsam vertraut. Kurz ihre Filmographie gescannt, und schon traten sie eine nach der anderen zu der verhinderten Selbstmörderin aufs Dach: Die pummelige und etwas tumbe Muriel, die zu Abba-Songs vom Heiraten träumt. Die panische Mutter eines von Ängsten geplagten Kindes ("The Sixth Sense"). Die depressive Öko-Mutter, in die Hugh Grant sich einfach nicht verlieben kann ("About a Boy"). Die disziplinierte Rechtsanwältin, die auf ihre partymachende Schwester Cameron Diaz aufpassen muss ("In den Schuhen meiner Schwester"). Alle diese Frauen - und viele, viele mehr: Das war Toni Collette. Und wer das nicht weiß, der merkt es nicht. So gründlich und tatsächlich selbstlos erledigt sie ihren Job.

Die Frau, die einem schließlich die Hand hinstreckt und vorauseilend um Entschuldigung bittet für ihren Jetlag, hätte man auf der Straße dann auch niemals erkannt. Lange, rotblonde Haare zu springlebendigen Türkisaugen und einem sehr breiten Lächeln. Sie steckt in einem eleganten Zweiteiler in Schwarz und Pink, ist ungeheuer nett, warmherzig und ganz und gar positiv. "Meditation und Pranayama", sagt sie mit leichtem australischen Akzent, "die kraftvollste Form des Yoga. Müssen Sie probieren, es hilft wirklich!"

Pranayama ist nicht unbedingt ein Stichwort, das zu ihrem neuen Film hinüberleiten würde.

"Hereditary", seit vergangener Woche in den Kinos, ist purer, feinster Psycho-Terorismus. "Die Kulmination von 50 Jahren Horror", raunte ein Kritiker, "der ,Exorzist' einer neuen Generation", frohlockte ein anderer. Das Erstlingswerk des jungen Amerikaners Ari Aster erzählt sehr kunstvoll von einer Familie, die an ihren eigenen Dämonen zugrunde geht, um nicht zu sagen: Einer nach dem anderen verreckt auf die grauenhafteste Art und Weise. Toni Collette ist die Mutter, wieder einmal, und wieder ganz anders. Die Kamera saugt sich fest an ihrem Gesicht, das Extremzustände scheinbar nach Belieben abrufen kann, fast wie eine multiple Persönlichkeit (tatsächlich hat sie in der Serie "Taras Welten" eine Frau mit acht Ichs gespielt). Man sieht und spürt: herzzerreißende Trauer, mark-erschütternde Angst, galoppierenden Wahnsinn bis hin zu dem Punkt, wo einem die grienende Fratze des Bösen mit ihren Zügen entgegen blickt. Da baumelt sie an einem Stahlseil im Dachstuhl und sägt sich selbst den Kopf ab. Ernsthaft!

Sie kichert. "Das war das Irrste, was ich je gemacht habe. Dabei hatte ich meinem Agenten gesagt, ich würde jetzt gerne mal wieder was Leichtes, Heiteres spielen. Aber dann hat er mir dieses Drehbuch gegeben, und ich fand es so bewegend." Man hätte jetzt gerne das Was-war-der-gruseligste-Film-deines-Lebens-Spiel mit ihr gespielt, doch daraus wird nichts. Denn wie sich herausstellt: Toni Collette mag keine Horrorfilme. Erträgt sie nicht, bekommt Albträume davon, meidet sie, wo sie nur kann. Sie hat weder den "Exorzisten" noch "Rosemary's Baby" noch "Shining" jemals gesehen. Das ist insofern erstaunlich, als sie bereits drei Horrorfilme abgeliefert hat und sich in diesem Moment auf Promo-Tour für den vierten befindet. Wäre ihr Agent mit im Raum, würde er jetzt wahrscheinlich mit aufgesetzter Munterkeit sagen: "Aber Toni, du magst natürlich Horrorfilme, es kommt nur auf die Qualität an, nicht wahr?!"

Aber nein, sie würde sich "Hereditary" wohl nicht ansehen, wäre sie nicht zufällig die Hauptperson Annie Graham. Über deren Elend spricht sie mit einer Intensität und vibrierenden Anteilnahme, dass man direkt in Tränen ausbrechen möchte, und wahrscheinlich ist es exakt diese rückhaltlose Empathie, die ihre Figuren unvergesslich macht. Sie selbst ist dagegen der normalste Mensch der Welt, was streng genommen bedeutet: kein Star. Das würde sie bestimmt direkt so unterschreiben.

Toni Collette kommt aus Blacktown, einem kleinen Vorort von Sydney, der Vater war Truckfahrer, die Mutter arbeitete im Kundendienst. Nichts deutete auf Leinwandruhm hin, und doch liest sich ihre Karriere auf dem Papier so, als sei sie unausweichlich gewesen. Mit 16 trotz guter Noten die Schule abgebrochen, um auf die Schauspielschule zu gehen. Diese nach der Hälfte der Zeit verlassen, um mit Geoffrey Rush in einer Theaterproduktion von "Onkel Wanja" mitzuspielen. Erster Kinofilm an der Seite von Anthony Hopkins und Russell Crowe, der zweite, "Muriels Hochzeit", schon ein internationaler Erfolg, fünf Jahre später dann "The Sixth Sense". Den sie erst gar nicht machen wollen, weil Bruce Willis mitspielte, den sie für kommerziell hielt. Dafür gab es die Oscar-Nominierung.

In ihren eigenen Worten war das natürlich alles komplizierter. Als das Raumschiff ihrer Karriere abhob und sie aus Blacktown wegriss, litt sie an Bulimie, Panikattacken und einem bohrenden Ärger, "weil sich meine Existenz wie ein schlechter Witz anfühlte". Ihr Leben war viele Jahre lang offenbar vieles gleichzeitig, fremd, aufregend, ein Riesenspaß und nur schwer zu ertragen. "Wenn ich zurückdenke, tut mir der Mensch, der ich war, unglaublich leid", sagt sie. Was wohl bedeuten soll, dass sie die schlechten Zeiten hinter sich hat.

Es muss wahnsinnig praktisch sein für eine Schauspielerin mit ihrem Talent: Du nimmst deinen Ärger, deine Trauer, all deine Selbstzweifel, kleidest alle paar Monate einen fiktiven Menschen damit aus und lebst ansonsten in Ruhe dein Leben. Unbehelligt. Unerkannt. Denn das tut Toni Colette. Was sie über sich privat erzählt, klingt so unspektakulär und bodenständig, dass es auch schon wieder unwirklich ist. Nach einer offenbar recht kaputten Affäre mit dem alkoholkranken Schauspieler Jonathan Rhys-Meyers hat sie vor 15 Jahren den australischen Musiker Dave Galafassi geheiratet, in dessen Band sie hin und wieder singt. Nach jahrelangem Pendeln zwischen Sydney und Hollywood sind sie vor ein paar Jahren widerstrebend nach Los Angeles gezogen, dort passt er auf die beiden Kinder auf, wenn sie arbeitet. Toni Collette hält sich von allem fern, was irgendwie nach rotem Teppich riecht, und, wenn man sich ihre Stirn so ansieht, auch vom Botox. "Ich fände es schrecklich, die Falten einfach zu leugnen", sagt sie. "Das ist im Übrigen das Gute, wenn man nicht auf sein Aussehen festgelegt ist: Ich kann arbeiten, bis ich neunzig bin. Ein Riesenglück!"

Später an diesem Abend, beeindruckt von ihr, aber auch unsicher, ob man nicht etwas Wichtiges übersehen hat, sucht man auf Youtube nach einem Auftritt mit ihrer Band. Und da, tatsächlich: Live Earth in Sydney, 2009. Sie trägt ein schwarzes Kleid, Pferdeschwanz und in der Hand ein winziges Xylophon, das sie mehr streichelt als spielt. Langsame Beats, ihre Stimme voll und rockig, hinter ihr am Schlagzeug Dave Galafassi, ihr Ehemann. Alle sehen sehr bei sich aus. Die Band heißt Toni Collette & the Finish. Beruhigend, irgendwie: Der Versuchung, ihren Namen als Zugpferd zu benutzen, hat sie dann doch nicht widerstanden.

© SZ vom 23.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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