Neujahr:Alles auf Anfang

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Drachenparade beim Chinesischen Neujahrsfest in Hongkong. (Foto: Tommaso Bonaventura/laif)

Wann das neue Jahr offiziell beginnt, ist immer auch eine kulturelle Festlegung. Jede Kultur braucht einen Kalender, auf den langfristig Verlass ist.

Von Harald Hordych

Wir schreiben den 9. Januar 2016. Und das nagelneue Jahr fühlt sich schon wieder ganz schön alt an. Wer jetzt folgert, wir haben das Beste hinter uns, also den Zauber, der bekanntlich jedem Anfang innewohnt, der unterschätzt die Vielfalt der Religionen und Kulturen auf dieser Welt. Wer sagt denn, dass nur am 1. Januar alles neu beginnt? Ein neues Jahr hat für viele Menschen längst noch nicht angefangen.

Das chinesische Neujahrsfest steigt diesmal am 8. Februar und eröffnet das Jahr des Affen. Einen Tag später beginnen die Tibeter ihr zweiwöchiges Neujahrsfest zu feiern. Am 13. April starten die Buddhisten in Sri Lanka, Myanmar und Thailand in ihr neues Jahr. Die Muslime begehen das Neujahrsfest in diesem Jahr am 2. Oktober. Und an den beiden folgenden Tage feiern die Juden Rosch Haschana, das Fest zum Neujahr. Und das ist nur eine kleine Auswahl.

Der Jahresanfang ist eine magische Grenze. Entsprechend war es verlockend, das Datum als symbolische Kraft des Neubeginns zu nutzen. Was lag näher, als den ersten Tag des Jahres mit einem sinnstiftenden Ereignis untrennbar zu verknüpfen? Deshalb war auch in unserem europäischen Kulturkreis der 1. Januar keineswegs so in Stein gehauen, wie es heute erscheint. Auch dieser Jahresanfang ist letztlich ein ebenso willkürlich gesetzter Termin, wie es zum Beispiel der Jahresanfang war, den die neuen Herrscher während der Französischen Revolution 1793 in ihrem Revolutionskalender festlegten. Der 22. September wurde zum neuen Jahresanfang erklärt, weil an diesem Tag die Republik offiziell verkündet worden war.

Sogar noch im 20. Jahrhundert waren europäische Nationen nicht davor gefeit, sich buchstäblich von heute auf morgen auf einen neuen Jahreszyklus einstellen zu müssen: So entschied Mussolini, dass der Marsch auf Rom der italienischen Faschisten im Oktober 1922, der zum Sturz der Regierung geführt hatte, gebührend zu feiern sei. Vier Jahre später erklärte er rückwirkend den 22. Oktober 1922 zum Tag eins der neuen Zeitrechnung, die parallel zur traditionellen Zeit geführt wurde und sich erwartungsgemäß nie durchsetzte.

Julius Cäsar war das Chaos leid, er gab einen neuen Kalender in Auftrag

Historische Marginalien. Dass man sie als Termin-Abweichler dingfest machen kann, verdankt man aber einem verbindlichen Kalender. Was heutzutage sehr banal klingt, geht auf die rühmenswerte Initiative des römischen Kaisers Julius Cäsar zurück. Die Einführung des Julianischen Kalenders gilt als seine größte Leistung. So exakt nachvollziehbar, so greifbar war die Zeit, welche die Erde braucht, um einmal die Sonne zu umrunden, für die Menschheit jahrtausendelang nicht gewesen.

Schon seit der Steinzeit waren die Menschen von dem Wunsch beseelt, dieses geheimnisvolle Vergehen, das wir Zeit nennen, und den Zyklus der Natur zu verstehen. Termine und Planungssicherheit sind keine Erfindung von Bürovorstehern und gehetzten Managern. Immer wieder zum gleichen Zeitpunkt eintretende Ereignisse, auf die man sich einstellen kann, kamen der Sehnsucht der Menschen nach Sicherheit und Beherrschbarkeit der Umstände entgegen. Dass die Natur bestimmten Zyklen folgte, war nicht zu übersehen, dass nach dem Tag die Nacht kommt, und eine Jahreszeit sich von der anderen unterscheidet, sind elementare existenzielle Erfahrungen. Um das zu begreifen, musste niemand die Mondphasen festhalten, die Sterne studieren oder den Höchststand der Sonne bestimmen, wie es ägyptische und griechische Sternendeuter lange vor den römischen Gelehrten getan hatten.

All diese Fertigkeiten aber mussten die Menschen einsetzen, um einen Kalender zu entwickeln, der den Verlauf eines Jahres auf den Tag und die Stunde möglichst genau wiedergibt. Und das stellte sich als extrem schwierig heraus, weil die Fixpunkte, anhand derer Tag, Monat und Jahr festgelegt werden, nichts miteinander zu tun haben: Der Tag basiert auf der Zeit, welche die Erde braucht, um sich einmal um ihre Achse zu drehen. Die Einteilung in Monate basiert auf dem Mondzyklus, und das Jahr umfasst die Zeit, welche die Erde benötigt, um einmal die Sonne zu umkreisen. 100 Zentimeter sind ein Meter. 1000 Meter sind ein Kilometer. Die deckungsgleiche Festlegung des metrischen Systems gibt es bei Tag, Monat und Jahr nicht. Keines passt ins andere. Das Jahr dauert nun mal nach heutigem Wissensstand 365,242199 Tage. Und das Jahr, das sich exakt am Mondzyklus orientiert, also an den zwölf Monaten, die jeweils im Schnitt 29,5 Tage lang sind, setzt sich aus rund 354 Tagen zusammen. Dann wird von einem Mondkalender gesprochen.

Dass da ein Unterschied zum Sonnenjahr klaffte, war den Menschen früherer Kulturen nicht entgangen. Nur war es viel leichter, die Mondphasen zu verfolgen, als den Sonnenhöchststand des Jahres zu ermitteln. Julius Cäsar war es schließlich 47 vor Christus leid, dass in seinem Riesenreich vieles wohlgeordnet war, aber ausgerechnet der von den Herren der Zeitrechnung verantwortete Kalender im römischen Reich ein einziges Chaos anzettelte. Willkürlich wurden ganze Schaltmonate eingelegt, Jahre verlängert, um die Jahreszeiten und die Monate, in denen eigentlich Frühjahr oder Herbst sein sollten, kurzfristig wieder einigermaßen in Einklang zu bringen. Cäsar bestellte ausländische Astronomen, die den neuen Kalender ausschließlich am Sonnenstand orientierten. Und die von den Ägyptern die Schaltregel übernahmen: 365 Tage dauert ein Jahr. Der unterschlagene Vierteltag wird mit einem zusätzlichen Tag in jedem vierten Jahr nachgeholt, so wie in diesem Jahr mit dem wieder mal aktivierten 29. Februar.

Das funktionierte prächtig. Hatte aber einen Nachteil: Auch Cäsars 365,25 Tage geben den Sonnenzyklus nicht exakt wieder: Das Jahr des Julianischen Kalenders war immer noch elf Minuten und 14 Sekunden zu lang. Er ging also im Lauf der Jahrhunderte wie eine kaputte Uhr nach. Erst Papst Gregor XIII. sorgte 1582 mit der nach ihm benannten Reform des Julianischen Kalenders dafür, dass der astronomische Frühlingsanfang, wie im Julianischen Kalender festgelegt, wieder auf den 21. März fiel und nicht auf den 11. März, an dem mittlerweile die Tagundnachtgleiche mit kalendarischer Verspätung gelandet war.

Dieses fehlerhafte Detail war aber aus Sicht der katholischen Kirche wegen der Bestimmung des Osterfestes (am Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühling) extrem wichtig. Gregor strich kurzerhand zehn Tage aus dem Kalender, indem er vom 4. auf den 15. Oktober springen ließ - und ließ die Schaltregel so geschickt ergänzen, dass der Kalender fortan pro Jahr nur noch 26,006 Sekunden zu lang ist.

Das hieß übrigens noch lange nicht, dass die Welt jetzt überall gleich tickte. In Saudi-Arabien gilt immer noch ausschließlich der islamische Mondkalender.

Weil der Papst hinter dieser Reform steckte, lehnten es viele protestantische Länder ab, ihre Zeitrechnung dem katholischen Modell anzugleichen. England zum Beispiel führte den Gregorianischen Kalender erst 1752 ein und damit auch einen neuen Neujahrstag! Bis dahin war der Beginn des Jahres mit den Festen zum Frühlingsbeginn und den Feierlichkeiten zur Ankündigung zur Ankunft Jesu Christi verknüpft. Das berühmteste Beispiel bleibt Russland, wo erst 1918 der Gregorianische Kalender für gültig erklärt wurde, was zur Folge hatte, dass die Oktoberrevolution stattgefunden hat, als in Europa schon längst November war.

Aber das war alles nicht Cäsars Problem. Der neue Kalender war gemessen an allen anderen bisherigen Versuchen ein Wunder an Genauigkeit. Und Cäsar war kein Mann halber Sachen: Bis dahin markierte der Frühjahrsbeginn auch den Anfang des Jahres. Das kann man bis heute an den Namen der Monate der vorjulianischen Zeitrechnung ablesen: Der September war der siebte (lat. septem: sieben), der Oktober der achte, der November der neunte und der Dezember der zehnte Monat des Jahres. Cäsar machte den 1. Januar zum Neujahrstag. Warum? An diesem Tag traten die römischen Konsuln ihr Amt an. Der erste Tag des Jahres wurde also gewissermaßen zum Symbol römischer Herrschaftsherrlichkeit, die wichtiger ist als der viel organischer für den Verlauf eines Jahres erscheinende natürliche Zyklus der Jahreszeiten, der mit dem Frühjahr beginnt und mit dem Winter endet. Und dieses Prinzip lässt sich auch an den Neujahrsterminen der Weltreligionen ablesen. Wie der Rest der Welt wenden sie im bürgerlich-zivilen Leben den Gregorianischen Kalender an. Aber als Gläubige leben sie in mancher Hinsicht nach ihrer ganz eigenen Zeitrechnung.

Die islamische geht zum Beispiel auf das Jahr zurück, in dem der Prophet Mohammed von Mekka nach Medina ausgewandert ist. Es wird das Jahr der Hidschra genannt. Der Tag, an dem diese Auswanderung begann - nach gregorianischer Zeitrechnung der 16. Juli 622 - ist der erste Tag des ersten Monats des islamischen Kalenders. Basierend auf dem Mondkalender ist das islamische Jahr in der Abfolge von 29 und 30 Tage langen Monaten zwar wunderbar überschaubar geordnet. Aber es ist, wie erwähnt, elf Tage kürzer als das Sonnenjahr, nicht nur der Neujahrstag ist somit immer an einem anderen Tag des Gregorianischen Kalenders, auch der Fastenmonat Ramadan wandert durch das ganze Jahr. 2016 wird er Anfang Juni starten. Das Datum steht noch nicht fest.

In keiner anderen Kultur wird das neue Jahr so ausdauernd begrüßt wie in der chinesischen

Der jüdische Kalender beginnt mit dem Monat, in dem laut jüdischem Glauben die Welt erschaffen wurde. Er ist ein Mondkalender wie der islamische Kalender. Um sich ans Sonnenjahr anzupassen, werden Schaltjahre mit 13 Monaten und entsprechend 384 Tagen eingelegt. Die Feierlichkeiten finden deshalb immer entweder im September oder im Oktober statt.

In keiner anderen Kultur aber wird das neue Jahr wohl so ausdauernd begrüßt wie in der chinesischen. Wie viele andere ostasiatische Völker haben es die Chinesen beibehalten, den Frühling als Beginn des Jahres im großen Stil zu feiern. Welcher Tag das ist, hängt davon ab, auf welchen Tag der Neumond zwischen 21. Januar und 20. Februar fällt. Weil es zugleich das bedeutendste Fest des Jahres ist, kommen die Familien zusammen, auch wenn Tausende Kilometer sie trennen, und sie bleiben mitunter mehrere Wochen zusammen. Viele opfern dafür ihren Jahresurlaub.

Gefeiert wird das neue Jahr also das ganz Jahr hindurch. Die katholische Kirche tat sich übrigens in früheren Zeiten lange schwer damit, dass der von Römern festgelegte 1. Januar so profan daherkommt und nicht auf einen bedeutenden christlichen Feiertag zurückgeht. Das Kirchenjahr beginnt nach wie vor am 1. Advent. Wie bei den Prostestanten.

© SZ vom 09.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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