N:No-go-Area

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Gibt es in Deutschland Gegenden, in die man sich nicht mehr trauen sollte? Eher nicht - jedenfalls nicht im Vergleich zu South Los Angeles. Eine Nacht auf den Killing Streets.

Von Jürgen Schmieder

(Foto: Steffen Mackert)

Zum Beispiel, wenn sich der Typ an der Straßenecke Florence/Vermont ins Auto lehnt und seine Knarre präsentiert. Oder wenn man kurz darauf gesehen hat, wie schwer bewaffnete Jungs verhaftet werden. Oder wenn einen der Gegner beim Billard fragt, was ein verdammtes Weißgesicht in dieser mexikanischen Kneipe verloren habe.

South Los Angeles, das ist eine sogenannte No-go-Area. Ein paar Viertel im Süden der Stadt, die niemand freiwillig betritt. Wer nach Sonnenuntergang die Florence Avenue runterfährt, der denkt an die Rassenunruhen vor 25 Jahren mit 63 Toten und 2400 Verletzten. An den Film "Boyz 'n' the Hood" und die Textzeile aus dem Lied "How to Survive in South Central" von Ice Cube, dass hier selbst die Starken nicht überleben würden. 20 Kilometer nordwestlich, in Hollywood und Malibu und Beverly Hills, da feiern die Reichen und Schönen. Hier, in South L. A., da sind sie froh, wenn sie ihren 21. Geburtstag erleben. Gerade gab es wieder Unruhen, weil Polizisten im vergangenen Jahr einen schwarzen Teenager erschossen hatten und nicht angeklagt wurden.

No-go-Area. Der Begriff wird derzeit auch in Deutschland gebraucht, im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf nutzte ihn die CDU erfolgreich, um der Landes-SPD Verwahrlosung ganzer Stadtteile vorzuwerfen: Dortmund-Nordstadt, Essen-Altenessen, Duisburg-Marxloh. Nun, wie ist es eigentlich in einer wirklichen No-go-Area, hier, in South LA?

Poncho hält nichts von Hunden als Haustieren: "Hunde sind zum Kämpfen da."

Zunächst ein paar Zahlen: Das Viertel Chesterfield Square liegt laut Statistik des Los Angeles Police Department (LAPD) mit 202,1 Gewaltverbrechen pro 10 000 Einwohner im vergangenen halben Jahr auf Platz eins der gefährlichsten Gegenden der Metropole. Platz zwei: Harvard Park, gleich daneben. Dahinter die umliegenden Vermont Knolls, Vermont Vista und Leimert Park. Die weltweit bekannten Watts und Compton liegen auf den Plätzen zwölf und 27, es hat dort in den letzten sechs Monaten insgesamt 929 Gewaltverbrechen gegeben, darunter 15 Morde und 18 Vergewaltigungen. Wohlgemerkt: Das sind nur die Verbrechen, die der Polizei gemeldet worden sind.

Es gibt immer wieder Berichte aus diesen Gegenden, für die sich jemand auf den Rücksitz eines Polizeiautos gesetzt hat. "Ride-along" heißt das, aber mal ehrlich: Was soll einer sehen, wenn er von schwer bewaffneten Polizisten chauffiert wird und durch gepanzertes Glas guckt?

Vielleicht mal ein anderer Ansatz: eine Nacht mit einem, der hier aufgewachsen ist und versichert, dass es für einen Menschen, dem die Natur ein bisschen Verstand und die Eltern ein bisschen Anstand mitgegeben haben, auf der ganzen Welt keine No-go-Area gebe. Na dann.

Poncho Aguilar ist klein und kräftig, Typ mexikanischer Straßenkämpfer, aufgrund seiner prächtigen Glatze haben sie ihn früher "Eight Ball" gerufen. Der Spitzname könnte auch von den Drogen kommen, die Leute vor 25 Jahren auf dem Parkplatz seiner Kneipe im Viertel Manchester Square (Platz elf, 124 Gewaltverbrechen im letzten halben Jahr) vertickt haben. Jeder Straßenzug ist berüchtigt für bestimmte Verbrechen oder bestimmte Gangs. In Manchester Square vor allem Drogenbanden, es gibt die Bloods und die Crips und die ganz üble MS-13. Es gibt auch das mexikanische Kartell Los Zetas - bestens organisiert, mit moderner Technologie ausgestattet und ohne jegliche Skrupel.

Poncho deutet die Graffiti an den Wänden, sie sind für ihn wie ein Tagebuch, welche Gang zuletzt was angestellt hat und was bald passieren könnte. Heute scheint es eher ruhig zu sein. Poncho strahlt diese beruhigende Selbstsicherheit aus, dass einem in seiner Nähe schon nichts passieren wird. Er war Kneipenbesitzer und Geldbote, heute ist er Bauunternehmer, er hat es vor fünf Jahren nach Westen in eine schöne Gegend am Strand geschafft. Um zu verstehen, was das für ein Typ ist, der einen durch South LA dirigiert, sollte man vielleicht wissen, dass er von Hunden als Haustieren nicht viel hält: "Hunde sind zum Kämpfen da."

Der Abend beginnt kurz nach Sonnenuntergang. Es geht durch Seitenstraßen, vorbei an abgefuckten Häusern, die kaum größer sind als die Mülltonnen im Vorgarten und in denen laut Poncho oftmals mehr als zehn Leute auf weniger als 60 Quadratmetern wohnen: "Wie die Viecher." Es riecht nach Lebensmitteln, die wochenlang bei 40 Grad in diesen Tonnen liegen, nach Benzin und hin und wieder auch nach Urin. Polizeisirenen sind weniger Warnung als vielmehr omnipräsenter Rhythmus. Es ist gefährlich hier, gewiss, aber man kann ja nicht sein Leben lang Body Count, N. W. A. und Tupac hören und das dann nicht irgendwie cool finden - auch wenn einem der Rapper Ice-T im Lied "Wanna Be A Gangsta" zugerufen hat: "Du sitzt an deiner Tastatur und tust so, als wärst du ein harter Bursche. (...) Wenn du nicht aus dieser Gegend kommst, dann bleib' verdammt noch mal draußen." Das wirklich Krasse ist doch: Draußen ist LA, eine der glamourösesten Städte der Welt.

Was noch auffällt: Niemand geht zu Fuß. "Nach Sonnenuntergang gehst du nicht auf die Straße", sagt Poncho. An roten Ampeln sperrt er das Auto zu, schließt die Fenster und bittet einen, zum Auto davor so viel Platz zu lassen, um notfalls sofort abhauen zu können: "Du hast ein Auto, wenn du dein Haus wirklich verlassen musst. Aber warum solltest du rumlaufen? Was hast du draußen verloren?" Er wartet nicht auf eine Antwort, sondern deutet auf fünf junge Männer auf dem Gehsteig, allesamt Afroamerikaner, die gerade verhaftet werden. Auf die Waffen am Boden. Da liegen nicht nur Messer und Pistolen rum, sondern auch automatische Waffen wie AK-47 und Tec-9.

Was hast du draußen verloren?

Poncho will Bier trinken und Billard spielen, er sucht eine typisch mexikanische Kneipe: "Da fühle ich mich sicher." Er wählt "Las Cariñosas" auf dem Long Beach Boulevard, ein bisschen östlich von Watts. Es gibt eine mindestens 20 Jahre alte Jukebox mit mexikanischen Volksliedern und mindestens 20 Jahre alte Billardtische mit knallroten Tüchern. Sonst gibt es nichts. 30 Männer sind da, allesamt Männer, die einzigen Frauen sind Bedienungen, sie haben alle - darf man das so sagen? - sehr große Brüste.

Niemand hier spricht englisch. Nicht, weil sie es nicht wollen, sondern weil sie es nicht können, auch nach zehn oder zwanzig Jahren in den USA nicht. Die Leute wollen nicht in South LA sein, sie können aber auch nicht weg. Sie haben sich das Leben eingerichtet, dass es sich wenigstens ein bisschen wie Mexiko anfühlt. Wer beim Billard verliert, der kauft dem Sieger ein Bier oder bezahlt dafür, dass sich eine Bedienung ein paar Minuten lang auf dessen Schoß setzt. Kostet beides fünf Dollar. Neben Anstand und Verstand helfen ein paar absichtliche Niederlagen, damit sich die Gäste für Bier und Bedienungen interessieren und nicht für das Weißgesicht von Reporter. Es hat dann schon was, wenn ein besoffener und wie ein Stierkämpfer gekleideter Mexikaner seinen Kopf an die Brust einer der Frauen lehnt, seine Augen zumacht und grinst, weil die Gypsy Kings "Hotel California" singen. Die Botschaft des Liedes: Du kannst nicht abhauen von hier.

"Es heißt immer, dass die Starken überleben. Scheiße, hier in South Central, da sterben selbst die Starken."

Nach Hause, es ist nun ein paar Stunden nach Mitternacht, will der Reporter wieder durch Seitenstraßen fahren. Poncho brüllt: "Bist du wahnsinnig? Hier beginnt Watts! Ein Weißer und ein Mexikaner in einem schwarzen Mustang-Cabrio? Das dauert keine zwei Minuten - und wir haben kein Auto mehr, kein Telefon, kein Geld. Wenn wir Glück haben, kommen wir lebend raus."

Moment mal: Der Typ, der 30 Jahre lang hier gewohnt hat und jede Straßenecke kennt, traut sich nicht in das Nachbarviertel? Hat er nicht vorhin behauptet, dass ein Mensch nur ein bisschen Verstand und Anstand brauche? "Dazu gehört auch, dass du deinen Arsch, wenn du eine bestimmte Hautfarbe hast, aus bestimmten Vierteln raushältst", sagt er: "Überleg mal, wen du wo gesehen hast. Wo waren Mexikaner? Wo waren die Asiaten und die Weißen und die Schwarzen? Ein Mal falsch abbiegen - und du kannst tot sein."

Das ist der Moment, auf dieser Straße, die tatsächlich Martin Luther King Boulevard heißt, in dem die Hände des Reporters zu zittern beginnen. Hier leben nur Leute, denen nichts anderes übrig bleibt. Sie trauen sich nach Sonnenuntergang nicht auf die Straße. Sie wissen, dass ein kleiner Fehler lebensgefährlich sein kann. Er denkt noch einmal an diese Worte aus "How to Survive in South Central": "Es heißt immer, dass die Starken überleben. Scheiße, hier in South Central, da sterben selbst die Starken." Der Reporter war noch nie in Dortmund-Nordstadt, Essen-Altenessen oder Duisburg-Marxloh. Er hofft nur, dass es dort nicht so ist und nie so werden wird wie in South Los Angeles.

© SZ vom 19.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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