Medizin und Wahnsinn, Folge 147:Körpergefühl für Fortgeschrittene

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Wenn der eigene Körper fremd ist: Sorgen Verdauungs-Fortbildungen und T-Shirts mit automatischer Schweiß-Anzeige wirklich für mehr Wohlbefinden?

Werner Bartens

Einer unserer erklärten Lieblingsvereine, die Deutsche Gesellschaft für Neurologie, hat in diesen Tagen bemerkenswerte neue Erkenntnisse veröffentlicht. ,,Gehirn und Nerven gewinnen an Bedeutung'', teilt die Fachgesellschaft mit, und das muss man unbedingt als eine gute Nachricht verstehen. Jahrelang führten Gehirn und Nerven offenbar eine Art Schattendasein im Schädel und in anderen wenig beachteten Körperregionen. Nur wenn der Kopf schmerzte und die Kalotte brummte oder wenn jemand penetrant auf die Nerven ging, erinnerte man sich gelegentlich der empfindlichen neuronalen Netze.

Neue Multifunktions-T-Shirts zeigen an, was und wie viel man beim Sport schwitzt und wie man am besten darauf reagiert. Dadurch sollen sie helfen, den eigenen Körper verstehen zu lernen. (Foto: DerGrafischer / photocase.com)

Zu unseren erklärten Lieblingsäußerungen gehören die medizinischen Bulletins, die von mitteilungsfreudigen Zeitgenossen in Bussen und Bahnen lautstark verbreitet werden. Neulich im Großraumwagen, eine jüngere Dame schreit in ihr Handy, dass sie später kommt, weil sie beim Arzt war. Eine Schleimhautentzündung habe der bei ihr festgestellt. Nein nicht dort, berichtigt sie ihren Gesprächspartner, sondern im Magen. Ja, sie habe letztens, als ihr der Schädel brummte, morgens vor dem Frühstück zwei Aspirin genommen. Das soll man wohl nicht, sagt sie, hätte der Arzt gesagt und spätestens jetzt kann man sich fragen, ob Gehirn und Nerven tatsächlich wieder an Bedeutung gewinnen.

Man muss ja nicht wissen, dass der Wirkstoff von Aspirin und Co., die Acetylsalicylsäure, nicht nur Schmerzen lindern und Entzündungen hemmen sondern auch den Aufbau und die Durchblutung der Magenschleimhaut empfindlich stören kann. Dass man die meisten Medikamente eher nicht auf nüchternen Magen nehmen soll, sondern lieber nach dem Essen, könnte sich aber inzwischen herumgesprochen haben.

Hat es anscheinend nicht, und vermutlich gibt es etliche Menschen, die ihren Körper kaum noch kennen beziehungsweise nicht erkennen, was er dringend braucht oder auf nüchternen Magen nicht gebrauchen kann. Immerhin gibt es in letzter Zeit ja diverse Angebote, eine Art Führerschein für bestimmte Körperteile oder -funktionen zu machen. Neben Still-Kursen werden auch Atem-Seminare verstärkt nachgefragt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Verdauungs-Fortbildungen angeboten werden.

In diese aufklärerische Richtung muss auch eine Initiative von Wissenschaft und Industrie verstanden werden. Forscher der Arbeitsgruppe Sensormaterialien in Regensburg haben ein Hemd entwickelt, das anzeigt, wenn jemand schwitzt. Dunkle Flecken auf hellblauem Polyester an einschlägigen Stellen lassen aufmerksame Beobachter zwar schon lange erahnen, dass sich hier die Transpiration unaufhaltsam ihren Weg sucht. Das neue T-Shirt kann aber angeblich deutlich mehr. Es zeigt an, was und wie viel ein Sportler schwitzt.

Man hat ja die Vermutung, dass zu großen Teilen Schweiß ausgeschwitzt wird, aber so einfach ist das anscheinend nicht. Denn das Funktions-Shirt gibt durch Farbwechsel zu erkennen, ob sein Träger besonders viele Mineralien verliert und bald durstig werden könnte oder ob gar Schwindel und Herzrhythmusstörungen drohen. Wie gut, dass es so ein Lackmus-Hemd gibt! Läufer trotten ja gedankenlos durchs Unterholz und merken womöglich gar nicht, wie durstig sie sind und dem Delirium nahe. Ein kurzer Blick auf das plötzlich von Blassviolett zu Gelb changierende T-Shirt signalisiert dann: Alarm, Austrocknung droht, schnell etwas trinken. Man kann den Vorstoß der Forscher auch anders verstehen: Als Sensormaterial oder wenigstens als ein Organ, das an Bedeutung gewinnt, trauen sie dem Gehirn nicht viel zu.

© SZ vom Wochenende 02./03.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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