Medizin und Wahnsinn (79):Der Placebo-Chefarzt

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Warum noch Patienten persönlich behandeln, wenn diese sich als "Medizin-User" am liebsten selbst heilen? Arzt-Darsteller wären günstiger für das System.

Werner Bartens

Bisher galt die Ärzteschaft als ähnlich reformfreudig wie die Bundeswehr und die Katholische Kirche. Es gibt jedoch erste Anzeichen dafür, dass Ärzte ihre Bedeutung selbstkritisch hinterfragen. Mit den Tabletten fing es an.

Ein Auslaufmodel? Der Arzt von heute sollte sich den Patienten nicht aufdrängen (Foto: Foto: s. rossi/photocase.com)

Bei Medikamenten lassen sich mit Placebos Schmerzen lindern und Koliken kurieren. 30 Prozent der schmerzstillenden Wirkung eines starken Morphins können mit Scheinmedikamenten erzielt werden. Für Ärzte Anlass genug, den Placebo-Effekt auch für sich selbst auszuprobieren.

Während der Protestaktionen gegen die Gesundheitsreform mieteten die verantwortlichen Ärztefunktionäre beispielsweise Demonstranten, die für sie auf die Straße gingen. Die gecasteten Ärzte-Darsteller kamen im Fernsehen sehr gut rüber - Placebo heißt wörtlich ja auch "ich werde gefallen".

Die Schein-Ärzte sahen deutlich frischer und telegener aus als es ein abgekämpfter Original-Mediziner nach einer 36-Stunden-Schicht je vermocht hätte, auch wenn er Botox, Laser und Silikonspritzen zu Hilfe genommen hätte. Der Placebo-Versuch der Ärztefunktionäre wurde ihnen hinterher allerdings übel vorgeworfen.

Einige wenige unerschrockene Mediziner sind jedoch trotz dieses Rückschlags entschlossen, weiterhin neue Wege zu gehen. Einen ersten Schritt machten die Anästhesisten bereits vor ein paar Jahren. Die Narkose-Experten dachten sich, dass nicht jedes Mal ein Arzt anwesend sein muss, wenn Patienten im OP-Saal vor sich hin dämmern.

Abrechnen wie ein Chefarzt

Von privaten Klinikbetreibern wurde die Idee begeistert aufgenommen, Krankenpflegepersonal zu Medizinischen Assistenten für Anästhesiologie (Mafa) weiterzubilden. Das war billiger als einen Arzt zu beschäftigen, und was soll bei einer Narkose schon passieren? Entweder der Patient wacht hinterher wieder auf oder nicht, Arzt hin oder her.

Ein bekannter Chefarzt für Anästhesie wollte sich seinen Mitarbeitern und Patienten ebenfalls nicht aufdrängen und am Operationstisch herumstehen, während die Chirurgen ihrem blutigen Tun nachgingen.

Der Placebo-Chefarzt ließ in allen OP-Sälen Überwachungskameras installieren, mit denen er den Verlauf des Eingriffs und die Narkosetiefe von seinem Büro aus mitverfolgen konnte. Sogar die Kontrollmonitore für Puls und Blutdruck konnte er einsehen. Bösartige Menschen unterstellten dem innovativen Doktor hinterher, er habe dies nur getan, um auch dann eine Chefarztbehandlung abrechnen zu können, wenn mehrere Patienten gleichzeitig operiert und narkotisiert wurden.

Das Prinzip des Arzt-Darstellers sollte in der Medizin stärker genutzt werden. Dies käme auch einem Trend entgegen, dem die Heilkunde wie auch die Katholische Kirche bisher ähnlich hilflos gegenüberstehen: Immer mehr Laien wollen nicht auf die Chefs hören und beziehen ihre Placebo-Medizin von Freunden, Frauenzeitschriften oder aus dem Internet statt von einem anständigen Arzt. Kürzlich erklärte eine Kollegin auf dem gelben Sofa, sie sei eine begeisterte "Medizin-Userin". Wieso soll man sich als Arzt da noch die Mühe machen, persönlich zu erscheinen?

Kranken-Darsteller gibt es ja schon: An Unikliniken mimen Pensionäre und Schauspielschüler Patienten mit erlernten Beschwerden, damit Medizinstudenten vor dem Examen wenigstens einmal erleben, wie es ist, mit kranken Menschen zu reden.

Für die Chefarzt-Visite könnte man sich ebenfalls rüstige Rentner oder Schauspieler als Anführer vorstellen, die würdevoll gestärkten Kittel und Stethoskop tragen. Glaubwürdig ist das allemal, die Schwarzwaldklinik hat es vor Jahren vorgemacht: Klausjürgen Wussow, der Chefarzt Professor Brinkmann spielte, wurde oft auf der Straße angesprochen und von Passanten um medizinischen Rat gefragt. Seine Empfehlungen haben mindestens 30 Prozent der Heilwirkung eines echten Arztes gehabt.

© SZ vom 16.05.2009/mmk - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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