Luft und Liebe:"Henry, hol den Weihnachtsschmuck!"

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In der Weihnachtszeit können Frauen ihren Dekorations-Fetischismus voll ausleben. Und so manchen Mann in den Wahnsinn treiben.

Violetta Simon

Als Helene ihn beim Frühstück bat, die große Kiste mit dem Weihnachtsschmuck aus dem Keller zu holen, wusste Henry: Es hatte begonnen.

Noch jemand ohne Lametta? Endlich wieder eine Gelegenheit, noch mehr Nippes als sonst in der Wohnung zu verteilen. (Foto: Foto: iStockphoto)

Es war nicht einfach nur so, dass Helene gern dekorierte. Sie war geradezu besessen von allem was glitzerte. Sie trat in einen Wettstreit mit der restlichen Welt und steckte mit ihrer Ausstattung jedes Kaufhaus in die Tasche. Ein paar Weihnachtskugeln, Kerzen und Lametta genügten ihr bei Weitem nicht. Alles musste funkeln und blinken und leuchten. Über den Boden verliefen meterlange Kabel, um all die stromfressenden Leuchtquellen zu speisen, die die Wohnung von innen und außen erhellten. Henry war überzeugt davon, dass es weitaus effektiver gewesen wäre, den Hauptstecker zu ziehen, als sich auf Bali über die drohende Klimakatastrophe den Kopf zu zerbrechen.

Die Sache mit dem Baum

Während er aus einer Tasse mit goldenen Flügeln Früchtepunsch trank (normales Geschirr und Pfefferminztee gab es erst wieder im Januar), bereitete er sich innerlich auf die kommenden Wochen vor. Für ihn persönlich bedeutete dieser Zeitpunkt den alljährlichen Auftakt zu einem Kampf, den er nicht gewinnen konnte. Da war zunächst mal das Platzproblem. Bevor Helene etwa auf die Anwesenheit des aufblasbaren Schneemanns und anderer Deko-Accessoires verzichtete, würde sie lieber ihren Mann vorübergehend im Keller deponieren.

Dann war da noch die Sache mit dem Christbaum. Er durfte sich keinesfalls ohne Baum blicken lassen heute Abend. Und auch nicht mit einem Baum, der zu klein war. Oder nicht grün genug. Oder nicht gleichmäßig gewachsen. Sie solle den blöden Baum doch selber kaufen, hatte er einmal gesagt. Doch sie hatte nur geantwortet, das Heranschaffen von Bäumen sei schließlich Männersache, er könne sich ja wohl auch ausnahmsweise einmal einbringen. Und überhaupt, die Ehemänner der anderen würden das auch schaffen.

Das war so nicht ganz richtig: Die anderen Männer gingen zu einem Christbaumhändler, wählten einen Baum aus, der preiswert und auch einigermaßen ansehnlich war, bezahlten und gingen. Daheim wurden sie wie wahre Helden empfangen, weil sie - schwer atmend und dampfend - so ein schweres Stück Natur in die heimische Höhle geschleppt hatten. Henry aber konnte sich mit dem Baum so viel Mühe geben wie er wollte, immer schickte sie ihn nochmal los, um ihn gegen einen grüneren, schöneren, geraderen, größeren umzutauschen.

Gut genug war er nie. Vielleicht behängte sie das Ding deshalb immer mit so viel Glitzerkram, dass man kaum noch etwas von ihm sah. Im vergangenen Jahr hatte er ihr vorgeschlagen: "Wie wäre es zur Abwechslung mit ein paar frischen Tannenzweigen?" Aber sie hatte ihn nur kurz mit diesem mitleidigen Blick angesehen, und sich dann wieder dem Sortieren des Lamettas gewidmet.

Der Schneemann wohnt jetzt hier

Als er jetzt mit dem Baum unterm Arm die Wohnungstür aufsperrte, hatte sie bereits den Fußabstreifer gegen eine Matte mit kleinen dicken Engeln ausgetauscht. An der Tür hing ein Kranz mit roten Blüten, geeisten Beeren und goldenen Schleifen. Er war auf das Schlimmste gefasst.

Es kam schlimmer. Er bekam die Tür gar nicht erst auf. Er rief durch den Spalt in die Wohnung hinein, doch statt einer Antwort dudelte aus dem Wohnzimmer "Rudi the Red-Nosed Reindeer". Er stemmte sich gegen die Tür und schob sich mit eingezogenem Bauch hindurch. Das war ja klar - der Schneemann hatte sich bereits zur Höchstform entfaltet und blockierte den Eingang. "N' Abend", ächzte Henry im Vorbeigehen.

Eigentlich hatten sie sich darauf geeinigt, diese aufgeblasene Geschmacklosigkeit auf dem Balkon zu deponieren - zwischen blinkenden Lichterketten und mit Kunstschnee besprühten Plastikbäumchen. Doch vermutlich war der Schneemann dort von einem neuen Monstrum, etwa einem Coca-Cola-Truck, verdrängt worden. Hoffentlich würde er nicht bis Silvester Tisch und Bett mit ihm teilen müssen.

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Er wollte sich gerade wieder davonschleichen, als seine Frau ihn bemerkte. "Da bist du ja! Und der Baum?" Henry zog ihn durch den verbliebenen Türspalt hinein, so dass er einen Teil seiner Nadeln einbüßte. Es folgte das Übliche: "Was, sooo klein? Und so schief! Gab es den nicht in schön? Wenn man dich schon mal losschickt."

An solchen Tagen hätte sich Henry gern zu den scheußlichen Krippenfiguren gelegt, als Esel oder Ochse vielleicht. Das wäre zwar kein großer Unterschied zu seinem wirklichen Leben, doch er hätte wenigstens seine Ruhe. Dann fiel ihm die Sache mit dem toten Hamster ein, und er nahm wieder Abstand von seinem Wunsch. Damals hatten sie geglaubt, er sei weggelaufen. Erst Tage später hatten sie seinen Kadaver in einer Ecke der Krippe gefunden. Er hatte das Dekogras gefressen, und das war ihm wohl nicht bekommen. Henry überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis Helene sein Verschwinden bemerken würde.

Wie sich Maria und Josef fühlen mochten, inmitten all dieses Prunks. In Bethlehem war es sicherlich bescheidener und auch besinnlicher zugegangen. Selbst die prächtig verzierten Heiligen Drei Könige wirkten an diesem Ort ein wenig underdressed.

Ein blinkender Komet über dem Esstisch ließ sein missmutiges Gesicht abwechselnd in gelb und rot aufleuchten. Weihnachtsmänner, Christbaumkugeln, Rentiere, Kerzenständer, Lichterzweige, Nippes und Glitzerkram soweit das Auge reicht. Alles glitzerte und glänzte.

Ausgerechnet die Christbaumspitze

Wie erschlagen ließ sich Henry aufs Sofa fallen, da knirschte es unter seinem Gewicht. Er hatte sich versehentlich auf ein Stück Christbaumschmuck gesetzt. Alles was davon übrigblieb, war ein goldenes Glasröhrchen. Bevor er die Bescherung heimlich entsorgen konnte, war Helene schon herbeigeeilt, hatte ihm die Scherben unter die Nase gehalten und ihn gefragt, ob er eigentlich wisse, dass dies eine Christbaumspitze aus mundgeblasenem Lauschaer Glas gewesen sei, in filigraner Handarbeit gefertigt und mit Silber veredelt. Preis: 39 Euro. Er hatte nur geschluckt und Schaufel und Besen geholt. Kaum war er zurück, hatte sie bereits eine neue Spitze hervorgekramt - exakt dasselbe Modell.

Als sie gerade summend auf eine Leiter stieg, um eine Girlande über der Schlafzimmertür zu befestigen, stahl er sich davon. Draußen war es bereits dunkel, und so wäre er beinahe in seinen Nachbarn gelaufen, der um die Ecke bog.

"Und, habt ihr schon einen Christbaum?", fragte der freundlich. Henry lächelte schwach. Er griff in die Innentasche seines Mantels, schob den Regler der Batterie auf "on" und ließ seine Nase rot blinken. Dann steckte er sich in jedes Ohr eine Kerze, zündete sie an und stellte sich auf ein Bein. Als die Männer in den weißen Schuhen ihn holten, sang er "Jingle Bells" und drehte eine Pirouette. Wäre er dabei nicht der Länge nach in den Schnee gefallen, es hätte beinahe festlich gewirkt.

Die Kolumne "Luft und Liebe" erscheint jeden Mittwoch auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/luftundliebe

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