Lob der Realität:In unruhigen Zeiten

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Was einem nachts nicht so alles passieren kann, die merkwürdigsten Dinge. Die Zehen zum Beispiel, die können alles mitnehmen. Die Füße zum Beispiel. Nach oben, in die Luft, und dann hängt der Träumende da oben oder wie soll man das jetzt eigentlich deuten?

Ich träumte, ich könnte schweben. Ich ließ mich nach hinten fallen mit durchgedrücktem Rücken und zog die Zehen nach oben. Und das Wundersame geschah: Die Füße begannen zu schweben und folglich auch die Person, die an den Füßen dranhing, oder besser, die auf den Füßen draufstand oder daran angebracht war. Also ich. Meine Füße und ich, wir schwebten. Der Traum ging so: Ich hatte mich, steif wie ein Balken, nach hinten fallen lassen. Die Füße mit den aufgestellten Zehen kippten nach oben, und so glitt ich im schwebenden Zustand rücklings die Straße entlang, in einem Kippwinkel von etwa 45 Grad. In Richtung: nach hinten. Man kann sich mich vielleicht vorstellen als einen Dachbalken, den ein Zimmermann schräg gestellt auf der Schulter über die Straße trägt. Nur dass es keinen Zimmermann gab. Der Balken (also ich) war alleine unterwegs, wundersamerweise die Straße entlang gleitend, die Füße in vielleicht zwanzig Zentimeter Abstand vom Boden. Die Luft hielt mich. Ich war ein dahergleitender Balken mit aufgestellten Zehen.

Das war schön. Aber ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte. Was ich berichten kann: Es waren unruhige Zeiten. Und es fühlte sich eigentlich nicht an, als ob ich schweben würde, sondern als ob ich einfach nur nach hinten kippte, und der Aufprall sich aber unendlich viel Zeit ließe. Offenbar kam es hier auf den unendlich langen Zeitraum des Wartens an. Der währte lang - so lang, dass ich mich daran gewöhnte. Ich gewöhnte mich an das unendlich lange Warten auf den Aufprall. Und empfand dann die Gewöhnung als Schweben. Ob es wirklich ein echtes Schweben war, wusste ich nicht, ich träumte ja. Ich sah Leute, die mich Schwebenden betrachteten. Ich glaubte erkennen zu können, dass sie mich respektvoll betrachteten. Wie jemanden, der etwas hinbekommt. Und so fühlte ich mich auch. Ich hatte den Eindruck, dass auch Bewunderung in diesen Blicken mitschwänge. Ich sah die Leute und dachte, sie dächten: "Ah sieh dort, den Schwebenden! Sieh, wie leicht es ihm ist! Diesem schwebenden Balken mit den aufgestellten Zehen! In diesen unruhigen Zeiten! Oh wie leicht es offenbar ist, rücklings schwebend daherzukommen wie ein Balken! Man weiß nicht, wo es lang geht, denn man sieht ja nichts, aber siehe, trotzdem stößt man nicht an, wenn man schwebt! Ein Aufprall ist fern!" (Das war richtig. Der Aufprall war tatsächlich fern: ich prallte nicht auf im Traum.)

Allerdings, das muss ich sagen: Ich war mir mit dem Ausbleiben des Aufpralls nicht sicher. Jederzeit erwartete ich den Aufprall! Ich wusste ja nicht, was sich hinter mir befand! Mein Hinterkopf war ungeschützt, ebenso mein Rücken, meine ganze Person, meine Existenz. Ich vertraute der Luft, aber es kam mir zweifelhaft vor: so unterwegs zu sein, so seinen Weg zu machen und so seine Ziele zu erreichen. Deshalb dachte ich, als ich die Blicke der Leute sah, sie dächten: "Ah sieh! Sieh den gleitenden Schweber! Sieh! Er ist ohne Schutz unterwegs! Und das auch noch nach hinten! Es ist ein Schwebedepp! Er lässt sich rücklings fallen in diesen unruhigen Zeiten! Er denkt, er würde schweben vor lauter Leichtigkeit, doch er schwebt nicht, er befindet sich in einer Fallsituation mit noch nicht eintretendem Aufprall-Unglück! Er wähnt sich als schwebenden Propheten der Leichtigkeit, doch er ist nur ein fallender Depp! Ein, wie wir schon erwähnten, Schwebedepp! Noch dazu ein Fallender!"

Doch von diesen tristen Gedanken entfernte ich mich wieder, ich schwebte ja. Und wie ich so unterwegs war, stellte ich fest, dass man sogar die Geschwindigkeit des Schwebens variieren konnte: je weiter man nach hinten ins Ungewisse kippte, umso schneller ging es vorwärts, umso pfeilschneller trug es einen durch die Luft, die angefüllt war mit dem kubikmeterweisen Vertrauen auf das Ausbleiben des Aufpralls. Ich schoss umher wie ein Pfeil.

Als ich erwachte, war ich verspannt am ganzen Körper. Mein Nacken schmerzte. Der Kopf knackte. Der Kiefer war hart wie Stein. Ich zog mir die Schuhe an und lief über den Boden. Das machte mich ruhig in unruhigen Zeiten.

© SZ vom 25.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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