Liebevolle Arbeit am Geschöpf :Erfolgsträchtig

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Die wenigsten Kühe entstehen heute durch natürliche Zeugung. Die Befruchtung der Tiere erfordert Technik, Können und Geduld. Unterwegs mit einem Großtierbesamer in Franken.

Von Lea Hampel

Wenn Karl-Friedrich Hollstein sich konzentriert, beißt er sich auf die Unterlippe. Er schaut schräg nach oben, doch es ist deutlich zu sehen, dass seine Konzentration sich nicht auf die Stalldecke richtet. Sondern auf seine Hand. Die steckt tief im Rektum einer Kuh. Rechnet man, dass er an sechs Tagen die Woche im Einsatz ist, ist es mindestens das 10 000. Mal, dass Hollstein in diesem Jahr seinen langen, kräftigen Arm in einer Kuh versenkt. Nach nicht einmal einer Minute zieht er ihn wieder heraus und nickt wissend. Er geht über den mit Kuhkot bedeckten Boden zum Ausgang des Stalls, wirft den überlangen Plastikhandschuh in einen Eimer und spült seine schweren Gummistiefel mit Wasser ab. Das braune Wasser kreiselt langsam zum Abfluss in der Mitte des Kachelbodens. Die Schuhe sind leidlich sauber, es riecht weiter brennend nach Kuhkot. "Das ist ein wunderschöner Beruf", wird Hollstein wenige Minuten später im Auto sagen, "ich hoffe, dass ich noch lange arbeiten darf."

So einen Hof, wie den, von dem er an diesem Morgen wegfährt, wollte Karl-Friedrich Hollstein eigentlich einmal selbst besitzen. Die Eltern des großen Mannes mit den kurzen graublonden Haaren waren Bauern. Lange war es keine Frage, dass er selbst auch Bauer würde. Doch der ältere Bruder bekam den Hof, und "ein Landwirt ohne Hof ist nix", sagt er lapidar. Kurze Sätze kommen meist aus seinem Mund, reden ist nicht seine Lieblingsbeschäftigung. Er handelt lieber, ist draußen, arbeitet still und schnell vor sich hin. Karl-Friedich Hollstein ist heute Großtierbesamer.

Anfangs konnte Hollstein sich kaum vorstellen, wie er durch pures Ertasten den Zustand einer Kuh erfahren soll

Geht es um moderne Tierhaltung, ist schnell von Industrie und Massenbetrieb die Rede. Dabei geht es auch bei kleineren Betrieben heute vor allem um Perfektion und Effizienz. Und an der arbeitet Hollstein mit. Dass Kühe heute trächtig werden, dahinter steht längst kein Tiersex auf der grünen Wiese mehr, wie es sich mancher Städter vorstellt. Es ist ein hoch technisierter Vorgang. Die Bauernhofidylle ist auch in diesem Bereich Vergangenheit. Kälbchen entstehen mithilfe eines iPads, unzähliger Pipetten, einer riesigen Datenbank. Und eines Geschäftsmodells, das mehr mit Fast-Food-Franchise-Systemen gemeinsam hat, als mit einer altmodischer Partnervermittlung. Es ist das Besamungs-Business.

Jeder Handgriff ist längst Routine: Großtierbesamer Karl-Friedrich Hollstein bei der Arbeit in einem Stall in Mittelfranken. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Auch in diesem Geschäft, dachte sich Karl Friedrich Hollstein damals bei der Berufswahl, würde er mit Tieren arbeiten, bräuchte aber keinen eigenen Hof. Er absolvierte einen Lehrgang zum Besamungstechniker. Anfangs, erzählt er, konnte er sich nicht vorstellen, wie das gehen soll: durch pures Ertasten herauszufinden, ob eine Kuh gerade rindert, wie die Brunft in der Fachsprache heißt, ob sie bereits trächtig ist oder gar eine Zyste hat. Heute dauert es meist weniger als eine Minute, bis er anhand des tiefen Dunkels im Inneren der Kuh ihren Gesamtzustand diagnostizieren kann.

Obwohl es gerade erst hell wird, ist Hollstein seit Stunden wach. An allen Wochentagen außer Sonntag steht er gegen sechs Uhr auf. Sobald er im Auto sitzt, hört er seine Mailbox ab. Sein altes Nokiagerät ist mit einer Freisprechanlage verbunden, zu hören sind meist Männer mit fränkischem Akzent, dazu immer wieder das Muhen einer Kuh. "Es geht um die Monika, die steht beim Fenster drüben", lauten die Nachrichten oder schlicht "Inka, 108, Liebenstadt 30". Hollstein nickt wissend, notiert sich für jeden der Dutzend Anrufe zwei Buchstaben im Kalender und fährt los - die Straße, der Morgennebel, die sanft hügelige Landschaft, er liebt diese Routine.

Seit 2004 ist er offiziell "Besamungsbeauftragter" im Landkreis Roth in Mittelfranken. Die Dörfer ähneln sich - eine gepflegte, etwas verwaiste Kirche und gelegentlich ein Platz mit Bankfiliale und Wirtshaus, manchmal ein Zweckgebäude der Gemeindeverwaltung. Die Höfe bestehen meist aus großen, unten weißen und oben mit Holz verkleideten Ställen mit einem Wohnhaus daneben. Fast immer lungert ein Hund herum, oft steht ein Geländewagen mit Schlammspuren vor der Garage. Das Wohl und Wehe von mehr als 100 Bauern und ihren Kühen liegt hier im wahrsten Sinne in Hollsteins Händen.

"Das ist ein wunderschöner Beruf. Ich hoffe, dass ich noch lange arbeiten darf." - Karl-Friedrich Hollstein (Foto: Alessandra Schellnegger)

Fährt er auf den Hof, geht er als Erstes mit wehendem grün-blauem Mantel in einen Nebenraum des Stalls und holt einen Ordner. Kuhnamen, letzte Besamungen, all das ist darin auf sogenannten Besamungsblättern vermerkt, für jede Kuh eines. "Was haben wir denn heute Schönes?" sagt Hollstein vor sich hin, während er die Tabelle studiert.

Das Ejakulat, mit dem Hollstein befruchtet, wurde von maschinell stimulierten Zuchtbullen gewonnen. Aus einer Portion lassen sich mehrere 100 Besamungsportionen herstellen; die holen Hollstein und Kollegen von der Besamungsstation ab und injizieren sie den Kühen. Es ist eine fast unsichtbare Arbeit: Nur die Bauern bekommen sie mit, der Supermarktkunde dagegen sieht nur Milch und Fleisch im Kühlregal. Dabei hat diese Besamung bereits seit den 50er-Jahren andere Methoden der Befruchtung abgelöst. Damals nannte man die Männer, die mit dem Motorrad den frischen Samen auf die Höfe brachten, Rucksack-Stiere. Heute fahren sie Autos und die Samen sind gekühlt und länger haltbar - Menschen wie Hollstein sind deshalb eher die Klapperstörche der modernen Milchtierhaltung. Und die kündigen sich, zumindest in seinem Fall, mit einer Hupe an. "Das ist eines meiner wichtigsten Geräte", witzelt er. Dabei sind die meisten Bauern ohnehin nicht da, weil sie auf dem Feld oder unterwegs sind. Stattdessen kommt oft der Hofhund. Aus seiner Tasche holt Hollstein Hundecracker; er setzt den braunen Filzhut auf und geht zum Kofferraum.

Dort hängen Brille und Mantel bereit. Darunter steht das, was man in Anlehnung an eine bayerische Redensart Adams Wurstkessel nennen könnte: ein Aluminiumbottich, sorgfältig abgedeckt. Es dampft leicht hinaus, zu sehen sind kleine Alustreben, die das obere Ende langer Röhren bilden. Evergreen steht auf den Streben, Vulcan oder Highway. Was nach Designerdroge klingt, ist je eine Pipette voller Samen in Stickstoff, gekühlt auf Minus 196 Grad und benannt nach dem Stier - englische Namen verkaufen sich offenbar gut, nur ein Humbert ist an diesem Tag dabei. Kaum einen der Stiere hat Hollstein je zu Gesicht bekommen, doch er kennt die Eigenschaften, die sie vererben: eine gute Hüftstellung etwa. Meist hat er bereits in seinem Tablet nachgeschaut, welche Eltern eine zu besamende Kuh hat. Er muss "die Verwandtschaft auf Abstand halten", wie er es nennt, also darauf achten, dass die Tiere nicht verwandt sind und so Behinderungen entstehen.

Die Samen trägt er, nachdem er sie kurz in eine lange Pipette umgefüllt und für wenige, mit der Eieruhr gemessene Sekunden aufgetaut hat, direkt am Körper in den Stall. So bleiben sie in der richtigen Temperatur. Und sind griffbereit. Es wirkt wie ein Teil einer über Jahre eingeübten Choreografie, die durch den immer gleichen akustischen Teppich untermalt ist: das Piepsen der Uhr, das Pupsen der Kühe, das Klappern der Metallgatter. Dazu Sätze von Hollstein. "So, wo ist jetzt des Mädel", sagt er und kurz ist unklar, ob er mit den Kühen, dem Bauern oder sich selbst spricht.

Vor allem die Haltung vieler Tiere steht schnell in der Kritik. (Foto: Alessandra Schellnegger)

An der Kuh selbst geht es schnell. Mit der linken Hand hat er Gleitgel auf die Rechte im überlangen Plastikhandschuh gegeben, "so geht das für beide leichter", sagt er und packt die Flasche zurück in seine Brusttasche. Dann hebt er den Schwanz hoch und versenkt den Arm im Rektum der Kuh und zieht ihn mehrfach wieder raus. Es platscht. Es spritzt. Es stinkt. Bevor eine Kuh besamt werden kann, sollte der Darm leer sein - sonst kann Hollstein nicht fühlen, ob sich eine Besamung überhaupt lohnt. "Ja!" sagt er kurz und laut, nickt, und holt mit dem linken Arm die Pipette aus seinem Unterhemd, setzt an der Vagina der Kuh an und schiebt sie langsam hinein, während er sie in der Kuh mit der anderen Hand lenkt. Als er die Pipette wieder rauszieht, reibt er der Kuh noch einmal über After und Scheide, "zusätzliche Stimulation" nennt er das, "es soll ja kein unangenehmer Vorgang sein für die Kühe" - im Gegenteil. Den Kühen soll es gutgehen, davon hängen nicht zuletzt seine Umsätze und die des Bauern ab.

Körperliche Schmerzen hat eher Hollstein, nicht die Kuh. Vor einigen Jahren bekam er Gelenkprobleme, vom vielen Stemmen, Schieben, Drücken. Mindestens fünfmal so viel wie er wiegt so ein Tier. So schön der Beruf ist, er ist anstrengend. 130 bis 180 Kilometer absolviert Hollstein pro Tag. In der Regel ist er am Nachmittag wieder zu Hause, heute wird er gegen drei Uhr seine Frau anrufen, um ihr zu sagen, dass sie die Rouladen warm machen kann.

Wie sehr sich der Job lohnt, hängt davon ab, wie schnell und gut man ist. Bezahlt wird pro Besamung, 13 Euro plus vier bis 16 Euro fürs Sperma bei der ersten Runde. Zweit- und Drittbesamung bringen weniger Geld. Deshalb gilt für Bauern und Besamer: Nur eine trächtige Kuh ist eine brauchbare Kuh. Wird es beim ersten Mal nichts, kommt Hollstein wieder, manchmal ein drittes oder viertes Mal. Oder es ist wie in diesem Fall. Eigentlich wollte der Bauer, dass er die Kuh besamt. Doch nachdem Hollstein minutenlang die Gebärmutter befühlt hat, sagt er: "Lauter Vernarbungen, das bringt nichts." Für ihn ein kurzer Satz, für den Bauer ein kleiner Verlust, für die Kuh ihr sicheres Ende. Sie kann keine Kälber mehr bekommen, es geht zum Schlachter.

Auch bei kleinen Höfen geht es längst um Effizienz - und moderne Technik. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Effizienz betrifft längst nicht mehr nur die Besamung selbst: Hollstein und seine Kollegen sind Subunternehmer. Die Samen, die sie kaufen, bezahlen sie selbst, abgerechnet wird mit den Kunden; Benzin, Auto, seine Infrastruktur muss Hollstein stellen. Urlaub macht ein Besamer nur, wenn er eine Vertretung findet, Kühe kalben auch an Weihnachten und es interessiert sie nicht, ob Hollstein Ferien hat.

Gelegentlich geht es nicht nur um brünftige Kühe - sondern auch um den Liebeskummer der Bauern

Für den Bundesverband der Tierzucht- und Besamungstechniker, dessen Geschäftsführer Hollstein ist, wird es deshalb immer schwieriger, Nachwuchs zu finden. Der Job ist komplex, schnell ist man allein mit einem stressigen Alltag. Hinzu kommt Bürokratie. Hollstein muss für jede Kuh eine Besamungskarte ausfüllen, dazu einen Barcodeaufkleber drucken, damit klar ist, welche Kuh welchen Samen bekommen hat. Er muss mit den Bauern können, ihnen auch mal sagen, dass ein anderes Futter die Fruchtbarkeit seiner Kühe steigern könnte - und zugeben, wenn sich eine Besamung nicht lohnt. "Die fühlt sich nicht so richtig verliebt an", sagt er, als er am späten Vormittag den Arm aus einer Kuh in einem großen Hof zieht. "Da gebt ihr nur euer Geld aus und es bringt nichts." Gelegentlich muss er sich auch Liebesdramen der Bauern anhören. Wenn die den ganzen Tag auf dem Hof vor sich hinarbeiten, sind sie froh, wenn jemand zum Schwatz vorbeikommt.

Das strengt den eher knorrigen Herrn an, aber es gehört dazu. Spaß macht ihm seine Arbeit in anderen Momenten - es ist daran zu erkennen, dass ihm ganz kurz die Mundwinkel nach oben zucken. An diesem Morgen passiert das gleich beim ersten Bauern. Hollstein schaut konzentriert, während er wieder einmal schultertief in einer Kuh ist. Wächst ein Embryo, ist es nach fünf Wochen kichererbsengroß. Bei fast drei von vier Erstbesamungen klappt das. Als Hollstein das durch den Darm spürt, nickt er kurz. Für Sekunden sieht er stolz aus. Er verkündet knapp: "Trächtig", nickt dem Bauern zu und tätschelt der Kuh den Po. 29 Besamungen hat er an diesem Tag ausgeführt, dafür in über 50 Kuhhintern gelangt.

Manchmal, das gesteht er ein, ekelt er sich. Nicht vor den Kühen. Vor dem Hundekot, der auf dem Hof herumliegt. Wenn man da rein steigt, findet er, das ist eine Katastrophe.

© SZ vom 02.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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