Liebes Leben:Ein Solo fürs Kind

Lesezeit: 2 min

(Foto: N/A)

Mein Kind ist ein Einzelkind. Ist es deswegen arm dran, sozial degeneriert oder generell unfähig, sich zu binden?

Von Franziska Storz

Mein Kind hat mich in eine Rechtfertigungsmaschine verwandelt: Ab wann knallen beim Fernsehen die Synapsen durch? Ist eine Reise nach Bali zu gefährlich? Schlimm, wenn dieses kleine Mädchen immer Salami-Sticks essen will? Und vor allem: Dreht sie durch, falls sie nie Geschwister haben wird? Je mehr Geschwisterkinder im Kindergarten angemeldet werden, desto drängender wird diese Frage. Armes Einzelkind? Ich war eins, mein Mann war eins, sie ist eins. Gut, ich halte uns alle nicht für komplett sozial degeneriert. Aber das Misstrauen bleibt.

Brauchen Kinder also Geschwister? Um Konfliktverhalten zu lernen und sich zu angenehmen Persönchen zu entwickeln? Es gibt tatsächlich Studien, die Einzelkindern verminderte Bindungsfähigkeit attestieren. Aber die sind mit Vorsicht zu genießen, weil auch die Wissenschaft gewissen Moden unterliegt. Nach der Weltwirtschaftskrise 1930 waren zu viele Kinder ein Kostenfaktor, Einzelkinder wurden für ihre Disziplin gepriesen. Im Krieg konnte man viele Kinder wieder gut brauchen und zur Zeit der 68er-Bewegung lagen Einzelkinder wieder im Trend.

Der renommierte Frühpädagoge Hartmut von Kasten schreibt, es gäbe keine validen Anhaltspunkte dafür, "dass Einzelkinder typische Persönlichkeitsmerkmale ausbilden, hinsichtlich derer sie sich von Geschwisterkindern unterscheiden". Im Gegenteil. Einzelkinder sind manchmal auf Freundschaften dringender angewiesen als Geschwisterkinder und geben sich daher manchmal schlicht mehr Mühe. Der urzeitliche Kampf am Küchentisch um die größte Portion Nudeln fällt für sie auch flach. Einzelkinder als "Egotaktiker" und "Singles von morgen" zu verunglimpfen gilt inzwischen als überholt.

Sie lassen sich eh nicht abschaffen. Im Gegenteil, es werden ja mehr. Zumindest solange Kinderkriegen in diesem Land durch die schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein hohes Maß an Unsicherheitstoleranz abverlangt. Und genau die haben Eltern in der Nestbauphase eben nicht.

Und doch, punktuell war ich sicher einsam und wäre lieber von einem großen Bruder an den Haaren durch das Zimmer gezogen worden, als alleine Pferdesticker in ein Album zu kleben. Einen Bruder oder eine Schwester zu haben, scheint aber auch kein Patentrezept zu sein. Der Filmemacher Ingmar Bergmann kommentierte die Geburt seiner Schwester mit den Worten: "Eine fette, missgestaltete Person spielt plötzlich die Hauptrolle. Ich werde aus dem Bett meiner Mutter vertrieben, mein Vater strahlt angesichts des brüllenden Bündels." Auf eins kann man sich wohl im ganzen Familienchaos verlassen. Ob man jetzt nach einem langen Tag ein, zwei, drei oder vier Kinder ins Bett bringt. Der Zauber eines jeden Kindes wird die Anstrengung wohl meistens kleinkriegen.

© SZ vom 04.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: