Leben mit Tourette-Syndrom:Der Feind in mir

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Er schreit "Fotze", "Schwuchtel" und "Heil Hitler". Ganz plötzlich überfiel Olaf Blumberg beim Joggen eine seltene Krankheit. Ein Treffen mit einem Mann, der mit der Diagnose Tourette leben muss.

Von Alex Rühle

Keine Frage. Der Mann geht sehr offensiv mit seiner Krankheit um. In der Verabredungsmail schreibt er: "Ich denke, eines Erkennungsmerkmals bedarf es nicht. Ich bin der, der am Bahnhof ,Fotze' schreit."

Tut er dann gar nicht. Olaf Blumberg wirkt auf den ersten Blick ohnehin völlig normal: ein großer Mann mit dunklen Locken. Turnschuhe und T-Shirt, schneller, federnder Gang, eloquente Art, einer, mit dem man sich schnell duzt: Wie war die Zugfahrt, Krefeld ist nicht besonders schön, lass uns ins Café gehen. Selbst durch die schwarze Lederjacke ist zu erkennen, dass er sehr muskulös ist. "Kampfsport", sagt er, "wer alle als Schwuchtel beschimpft, muss sich verteidigen können." Im selben Moment kläfft er so laut durch die Fußgängerzone, dass der dickliche Blumenhändler, der gerade andächtig seine Astern gießt, etwas Wasser verschweppert. Wow. Klang wie echtes Gebell. "Hab ja auch viel Übung", sagt Blumberg.

Olaf Blumberg ist vor sechs Jahren auf den Hund gekommen. Beim Joggen. Er war Lehramtsstudent, 23 Jahre alt, Sommer in Bochum, alles war eigentlich gut. An jenem Nachmittag aber überfiel ihn die Krankheit in vollem Lauf. Erst war da nur dieses Kribbeln. "Als ob ich einen Mückenschwarm verschluckt hätte, der nun abrupt zum Leben erwachte. Ich bekam Angst. Als ich zu einem Zwischenspurt ansetzte und mein Puls beschleunigte, wurde der Druck mit einem Mal so stark, dass ich einen bellartigen Laut ausstieß. Einfach so."

So beschreibt er den Anfang seines neuen Lebens in seinem Buch "Ficken sag ich selten", das soeben im Ullstein-Verlag erschienen ist. Das Bellen hörte damals gar nicht mehr auf, panisch suchte Blumberg während des Laufens nach einem Versteck. "Ich war mir sicher aufzufallen wie ein Junkie mit Spritze im Arm auf einem Anti-Drogen-Kongress."

"Hej Süßer, altes Gammelfleisch"

Heute läuft Blumberg sicheren Schritts durch die Fußgängerzone von Krefeld, stößt ab und zu helle Kiekser aus, setzt sich dann ins Straßencafé, mitten unter die Leute und sagt: "Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder radikale Flucht nach vorn oder du sperrst dich ein in deinem Zimmer. Das wird aber ausgesprochen autoaggressiv. Die Krankheit hat dann ja kein Futter außer ihrem Wirtstier, dem Kranken." In dem Moment steht die Kellnerin an unserem Tisch. "Einen Kaffee bitte", sagt Blumberg. "Und noch was: Ich hab Tourette. Falls ich ordinäre Sachen sage oder rumbrülle - ich mein' das nicht so, Ehrenwort." "Okay", sagt die Kellnerin und zieht achselzuckend ab.

Zur Kellnerin wird Blumberg im Verlauf des Nachmittags nichts sagen, aber einem älteren Herren ruft er irgendwann "Hej Süßer, altes Gammelfleisch" hinterher. Er bellt natürlich mehrere Hunde an, die vorbeikommen. So echt, dass die Hunde immer irritiert und erschrocken zwischen den Tischbeinen des Cafés ihren übersehenen Artgenossen suchen. Und er sagt, kaum, dass er sitzt: "Oh oh. Da drüben, die zwei alten Türken, da fang ich gleich an zu ticken, da will was raus, irgendwas mit Integration."

Das Tourette-Syndrom. Eine unheilbare, neuropsychiatrische Erkrankung, deren Ursache man bis heute nicht kennt. Im Pschyrembel wird sie direkt unter der "Tic-Störung" beschrieben. "Ein Tic", steht dort, "ist eine unwillkürliche, rasche, wiederholte Bewegung meist umschriebener Muskelgruppen oder eine Lautproduktion, die plötzlich einsetzt und keinem erkennbaren Zweck dient." Blumberg stößt oft mitten im Reden solche kleinen Laute aus. "Ha!" "He!" Wie jemand der lacht, ohne zu lachen. Oder wie ein schüchterner Polizist, der jemandem hinterherruft.

Und? Hasst er sein Tourette? "Nicht mehr. Es ist eher wie in einer WG, aus der ich nicht ausziehen kann. Mal räumt der Mitbewohner das Geschirr nicht auf, mal hört er zu laut Musik, so ist es halt. Nur wenn du die Krankheit akzeptierst, ist sie nicht mehr die Hauptfigur in deinem Leben." Der Satz dreht jäh nach oben, das Sprechen verzerrt sich zum nasalen Wimmern, in einem Comic wären die Worte "nicht mehr die Hauptfigur" gefettet und riesig groß. Es ist, als wolle Tourette ihm zeigen, wer Herr im Haus ist: von wegen akzeptieren, ich bestimm' deine Tonlage.

Nun muss man sehr vorsichtig sein mit der Personalisierung von Krankheiten. Blumberg tut das aber selbst immer wieder: Er nennt seine Krankheit einen unberechenbaren Untermieter. Einen Sadisten. Ein spielendes Kind. Einen Dämon. Sein Buch liest sich streckenweise wie der Gespenstermonolog eines Schizophrenen, etwa die grauenhafte Demütigungsszene im Bad seines Studentenwohnheims, ein paar Wochen nach der Erkrankung: "Es ist wie ein innerer Dialog, nur ohne Worte.

Du weißt schon, was ich will!

Nein!

Beiß dich, Olaf!

Nein! Wieso sollte ich mich beißen?

Tu's einfach. Ich weiß, dass du es willst.

Nein.

Dann leck wenigstens die Fliesen ab."

Um die Szene abzukürzen: Blumberg leckt die Fliesen ab, es schmeckt staubig, die Krankheit lässt trotzdem nicht von ihm ab: "Du hast mir doch was versprochen. Du wolltest dich doch noch ein bisschen beißen. Bitte, Olaf! Tu mir den Gefallen! Beiß dich! Vorher lass ich dich nicht in Ruhe."

Blumberg musste sein Studium abbrechen, kam in die Psychiatrie, nahm Medikamente. Statt sich aber wie die meisten Tourette-Kranken irgendwo zu verkriechen, griff er den Stier bei den Hörnern: Setzte alle Mittel ab, fing an, in einer Disco zu arbeiten (bei lauter Musik hört man all die Schreie nicht). Trat auf bei Poetry Slams. Und immatrikulierte sich in Paderborn für Soziale Arbeit. Die Uni ist klein, jeder kennt ihn. Nächstes Jahr wird er fertig. Momentan macht er ein Praktikum in einer Schule für Sonderpädagogik. "Tut gut", sagt er. "Kinder sind impulsiver. Herzlicher. Und es ist ihnen ja nicht so elend viel peinlich wie den Erwachsenen."

All seinen verbalen Tics ist genau das gemein: Sie sind ihm peinlich. Er sagt die Dinge, die er jeweils gerade nicht sagen will: Fette Sau. Fotze. Es ist, als würde die Scham ihn vor sich hertreiben. "Nachher geh ich in meine Kampfsportgruppe. Heute kommen vier Jungs aus Israel dazu. Da mach ich dann wieder diesen hier." Er steht im Herbstlaub in der Krefelder Innenstadt, reckt ruckartig den rechten Arm hoch und schaut dazu bedauernd, als wolle er sagen, was willste machen, Hitler ist stärker als ich.

Schwuchtel ist auch stärker. Fotze sowieso. Aber Ficken eigentlich nicht: Als Blumberg einmal im Café saß und "Heil Hitler" rief- in der damals gerade populären Version "Heil Hitler lalalala!" -, drohte ihm ein Gast: "Du kleiner Nazi haust jetzt ab." Als Blumberg erklärte, dass er Tourette habe und das nicht absichtlich mache, erklärte der Gast: ",Ich kenne Tourette. Die sagen Ficken, nicht Heil Hitler! Du bist'n Nazi.' - ,Ruf doch die Bullen', rief ich ihm, ,du Experte! Das wird ein Fest! Und übrigens: Ficken sag ich selten!'" Wäre interessant zu erfahren, ob echte Nazis mit Tourette überhaupt Heil Hitler rufen würden. Ist ihnen schließlich nicht peinlich.

Aber schämt sich Blumberg immer noch? Er lehnt sich zurück, legt den Kopf schief und sagt: "Wenn du 300 Mal diesen absoluten Selbstdemütigungsmoment erlebt hast, dass du ausgerechnet vor einer sexuell attraktiven Frau ,Fotze' schreist, dann ist es dir irgendwann egal, was die Leute von dir denken."

Klingt fast, als habe Tourette auch gute Seiten. "Oh ja", sagt Blumberg, "die Krankheit zeigt dir zum Beispiel, dass viele Dinge, die wir für wertvoll halten, gar nicht so wertvoll sind." Das sieht seine Hausratsversicherung sicher anders. Blumberg hat mehrere Handys zerschmettert und viele seiner Kleidungsstücke zerrissen. Aber was macht das schon, Handys und Pullis kann man neu kaufen, Augen nicht: Plötzlich war da der Zwang, sich den Zeigefinger der linken Hand ins linke Auge zu rammen. So heftig, so oft, dass er heute kaum noch etwas sieht auf dem Auge.

Das Gespräch ist anstrengend für Blumberg. Nach einer Stunde schaut er plötzlich abrupt in den Himmel hoch und sagt: "Für mich ist das, wie wenn du am PC sitzt und schreibst und schreibst und nebenher gehen immer mehr Programme auf, sodass der Prozessor immer langsamer wird."

Hitler im Kopf

Für sein Gegenüber ist von dieser Anstrengung wenig zu spüren. Im Gegenteil: Blumberg ist ein beeindruckender Beleg für die These der Neurologin und Tourette-Forscherin Kirsten Müller-Vahl, derzufolge viele Betroffene ein rasches Auffassungsvermögen, eine besondere Schlagfertigkeit und ein überdurchschnittliches Assoziationsvermögen besitzen: Blumberg antwortet rasend schnell, er imitiert im Erzählen von Anekdoten die jeweiligen Figuren wie im Improtheater und er findet starke Bilder für seine Krankheit: "Wenn der Tic kommt, das ist, als hättest du im Gehirn einen Niesreiz. Du kannst ihn eine Weile unterdrücken, aber dann musst du erst recht losprusten."

Nun haben Anekdoten und Metaphern etwas Tröstendes, die Krankheit wird darin handlich verpackt, szenisch isoliert und oft für einen Gag instrumentalisiert. Als Arno Geiger ein Buch über die Demenzerkrankung seines Vaters schrieb, sagte seine Schwester irgendwann: "Wenn ich dein Manuskript lese, muss ich schmunzeln. Aber in Wirklichkeit ist es der Horror."

Nach einem Treffen mit Olaf Blumberg kann man als Journalist hochzufrieden von dannen ziehen, Blumbergs sympathisch lebhafte Eloquenz, der ganze Block voller Anekdoten . . . Er selbst aber geht davon, Hitler im Kopf, und man hört noch lange seine hohen Kiekser in der ansonsten stillen Fußgängerzone: "Hee! Haa!"

© SZ vom 26.10.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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