100 Jahre Guide Michelin:Der lange Weg zu den Sternen

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Ein Klassiker: Am kommenden Montag feiert der Guide Michelin seine 100. Ausgabe - zur Freude der Feinschmecker.

Robert Lücke

Im Jahr 1900 ist Autofahren noch ein echtes Abenteuer. Auf Frankreichs Straßen tuckern nicht einmal 3000 Automobile herum - oft steht ihnen ein Pferd im Weg oder eine alte Frau sitzt auf einem Stuhl mitten auf der Straße.

Es ist fast schon ein Naturgesetz, dass Paul Bocuse im Guide Michelin geführt wird (Foto: Foto: Reuters)

Es gibt kein Navi, keinen ADAC, keinen Asphalt, keine Autobahnen, und für die Strecke von den Alpen nach Paris braucht man Tage. Zwischendurch geht ständig etwas kaputt, vor allem die Reifen müssen geflickt werden, weil die Straßen eine Mischung aus Buckelpiste und Schlammschlacht sind.

Trotzdem glauben André Michelin und sein Bruder Edouard an die Zukunft dieser seltsamen Art der Fortbewegung. Ihr Glaube ist Zweckoptimismus, denn sie stellen Gummireifen her. Um ihren Absatz anzukurbeln, beschließen sie schließlich, ein Buch herauszubringen, in dem Autowerkstätten und Reifenhändler aufgelistet sind.

Die erste Auflage erscheint im August 1900 zur Pariser Weltausstellung in einer Auflage von 35.000 Exemplaren, die kostenlos verteilt werden sollen. Manche rümpfen da die Nase. 35.000 Stück für 3000 Autofahrer?

Doch André Michelin ist sich sicher: "Dieser Guide ist mit dem Jahrhundert geboren, er wird ebenso lange wie dieses fortbestehen." Michelin sollte recht behalten, und was damals selbst er nicht ahnte: Aus diesem Buch sollte der wichtigste Restaurantführer der Welt werden.

Gefürchtet, gehasst, beliebt

Kein anderer Restaurantführer ist gleichermaßen gefürchtet, gehasst, angesehen und beliebt. Denn nur der Michelin vergibt die Sterne, die für Köche so viel bedeuten. Das tut er nun seit 1926, und noch immer bibbern Köche vor dem Erscheinungstermin. Denn ein Stern mehr oder weniger kann sehr viel ausmachen: Renommee, den totalen Ansehensverlust, 300.000 Euro mehr oder weniger in der Jahreskasse.

Nils Henkel aus Bergisch Gladbach, der im vorigen Herbst zum ersten Mal in seinem Leben mit der Höchstnote von drei Sternen ausgezeichnet wurde, sagte: "Das ist das Ziel fast jedes guten Kochs." Auch wenn das kaum einer zugeben möchte.

Am 2. März, wenn die neue Ausgabe erscheint, feiert der französische Michelin seinen hundertsten Geburtstag - er hat dafür 109 Jahre gebraucht, weil während der beiden Weltkriege keine Ausgaben erschienen. 1900, im ersten Buch, gibt es noch gar keine Sterne, nur Ratschläge zum Reifenwechsel und zur Wartung des Fahrzeugs.

Das ändert sich 1920, das Buch kostet erstmals Geld, dafür bekommen die Leser nun Restaurants empfohlen sowie ein Verzeichnis von Pariser Hotels. 1926 schließlich ist es so weit: Der Michelin vergibt zum ersten Mal einen Stern für gute Küche, 1931 kommen der zweite und dritte Stern hinzu, und 1936 führt André Michelin die bis heute gültige Definition ein: "Eine sehr gute Küche" (ein Stern), "Eine hervorragende Küche: verdient einen Umweg" (zwei Sterne) und "Eine der besten Küchen: eine Reise wert" (drei Sterne).

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Das bröckelnde Denkmal

Heute gibt es den Michelin in 15 Ländern, und inzwischen werden sogar Drei-Sterne-Köche außerhalb Frankreichs gekürt. In Deutschland sind es derzeit neun. "Wir machen überall dort Führer, wo es genug gute Restaurants gibt", sagt Michelin-Direktor Jean-Luc Naret.

"Allein in Tokio haben wir achtmal drei Sterne vergeben - das Buch verkaufte sich am ersten Tag 120 000-mal." Er plant weitere Ausgaben für Indien und andere asiatische Länder, eventuell auch für den Mittleren Osten.

Vergeben werden die Sterne von den gefürchteten Michelin-Testern. Sie sind festangestellt und finanziell unabhängig. Sie treten anonym auf, kein Wirt weiß vorher, mit wem er es zu tun hat. Erst nach dem Essen stellen sich die Tester vor. Besonders großen Wert legt der Michelin darauf, dass Restaurants vor jeder Höherstufung, aber auch jeder Abwertung mehrfach besucht und getestet werden, meist von mehreren Inspektoren. Außerdem müssen die Tester eine Lehre in der Gastronomie abgeschlossen haben.

Das alles sagt die Michelin-Redaktion, was auch kein Koch ernsthaft in Zweifel zieht. Und diesen Anspruch hat kein anderer Restaurantführer. Deswegen gelten Sterne im Michelin jedem Koch mehr als Gault-Millau-Punkte, Feinschmecker-"F"s" und Aral-Kochlöffel. Dennoch sagen heute manche, auch der Michelin habe ja längst nicht mehr die Reputation wie früher. Das sind aber vor allem jene, die einen Stern verloren haben. Sie klagen, der Michelin verleihe die Sterne heute zu schnell, zu leichtfertig und großzügig. Das hätte früher keiner zu behaupten gewagt.

Im Jahr 2004 begann das Denkmal zu bröckeln. Erst behauptete Pascal Rémy, ein früherer Michelin-Mitarbeiter, der Führer nehme alles nicht so genau, habe heilige Kühe und besuche viele Lokale gar nicht, gebe ihnen einfach Jahr für Jahr die Sterne. 2005 erschien der belgische Michelin und lobte das Lokal "Ostend Queen" des damaligen Brüsseler Drei-Sterne-Koches Pierre Wynants, ein Restaurant, das noch gar nicht eröffnet war. Als das herauskam, wurde die komplette bereits gedruckte Auflage kommentarlos eingestampft. Und der Michelin musste öffentlich Buße tun - eine Art Götterdämmerung.

Die Redaktion tat, was sie noch nie gemacht hatte: Sie legte öffentlich dar, wie sie arbeitet, etwa dass man Restaurants in kritischen Fällen mit Testern auch aus anderen ausländischen Michelin-Redaktionen bis zu siebenmal besuche, um zu verhindern, dass ein einmalig schlechtes Ergebnis ausschlaggebend sei. "Jeder Koch hat mal einen schwarzen Tag", sagt Juliane Caspar, die bis Ende 2008 Chefredakteurin der deutschen Ausgabe war und nun den Michelin in Frankreich leitet. Generell, sagt sie, erwarte man neben Produktqualität, fachgerechter Zubereitung, Geschmack und Kreativität vor allem Beständigkeit.

In seiner Historie scheute der Michelin nicht davor zurück, Feinschmecker-Tempel öffentlich zu demontieren. So verloren in Paris hochangesehene, kulinarisch aber in Verruf geratene Restaurants wie das "Maxim"s" oder das "Tour d"Argent" die drei Sterne. In Deutschland mussten unlängst Heinz Winkler aus Aschau und vor drei Jahren Jean-Claude Bourgueil vom Düsseldorfer "Schiffchen" dran glauben. Niemand hat die Sterne gepachtet, sie kommen und gehen, und so bleibt immer noch ein bisschen vom Mythos des Michelin übrig.

© SZ vom 27. Februar 2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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