J:Jugend spricht

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(Foto: Steffen Mackert)

Täuscht das, oder sind Leute um die 20 wirklich politischer als noch im letzten Jahrzehnt?Hier erklären acht von ihnen, was sie kurz vor der Bundestagswahl bewegt. Ein Kaleidoskop aus Idealismus und Realismus - und Wünschen an die Politik.

Protokolle:  Sebastian Jannasch und Susanne Klein

Hasan Makolli, 21, in der Ausbildung zum Erzieher in Hameln

"Ich bin zwar in Hameln geboren, habe aber nur einen kosovarischen Pass, weil meine Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen. Ich darf nicht wählen. Ich fühle mich machtlos, weil ich keinen Einfluss darauf nehmen kann, welche Partei auch mich regiert. Es wäre schrecklich, wenn die AfD in den Bundestag kommen würde. Wenn ich einen deutschen Pass hätte, würde ich vielleicht in die SPD eintreten, weil ich muslimisch bin. Gerhard Schröder ist ein Vorbild für mich, er hat gezeigt, dass man es hoch hinaus schaffen kann, egal, aus welchen Verhältnissen man kommt. Ich mache eine Ausbildung zum Erzieher, um Jugendlichen zu helfen, aber als Politiker kann man mehr bewegen, um junge Leute von der Straße zu holen. Die Politik müsste generell mehr für den sozialen Bereich tun: Die schulische Ausbildung zum Erzieher ist zum Beispiel nicht bezahlt. Das ist nicht fair. Es würde vermutlich viel mehr Erzieher und Pfleger geben, wenn es einen ordentlichen Lohn gäbe. Seit der Flüchtlingskrise interessiere ich mich immer mehr für Politik. Viele verurteilen Angela Merkel dafür, dass sie so viele Flüchtlinge nach Deutschland gelassen hat. Ich finde es aber richtig. Sie hat vielen Menschen eine Chance gegeben, hier etwas zu erreichen. Deshalb würde ich sie wählen, wenn ich könnte."

Elina Köster, 18, studiert von Oktober an Physik in München

"Politisch zu sein, das heißt für mich zu gucken, was in der Welt los ist, und mit unterschiedlichen Leuten darüber zu reden, damit ich mir meine eigene Meinung bilden kann. Und ich engagiere mich auch. Ich war auf Sonntagsdemos der Bürgerbewegung Pulse of Europe und auf dem March for Science. Wählen gehe ich, das ist für mich Bürgerpflicht.

Ich finde bei jeder Partei bis auf die AfD gute und schlechte Aspekte. Es ist ja nicht so wie in den USA, wo man nur zwischen zwei Übeln wählen konnte. Von Schulz bin ich nicht so begeistert, die Positionen der SPD finde ich aber überwiegend in Ordnung. An Merkel ist vieles sympathisch, ihre Flüchtlingspolitik und wie sie mit den wichtigen großen Männern in der Weltpolitik umgeht. Aber wählen kann ich sie nicht, weil ja die CSU dabei ist, mit der ich überhaupt nicht sympathisiere. Es geht mir um eine klare Unterstützung für kulturelle, religiöse und soziale Minderheiten, um Umweltschutz - und um die Bildung. Die Leute in meinem Alter und die Kinder sind doch das künftige Fundament der Gesellschaft, wir gehen arbeiten und werden die Rente zahlen, da sollte die Bildung noch besser werden. Damit wir wirklich zu mündigen Leuten werden, muss viel mehr investiert werden."

Lukas Koopmann, 22, Tontechniker in Hamburg

"Das ist meine zweite Bundestagswahl, und ich gehe auf jeden Fall hin, um nicht irgendwelchen Rechten das Feld zu überlassen. Und weil sich etwas verändern muss. Unsere regierenden Politiker dienen hauptsächlich den großen Konzernen und viel zu wenig der Unter- und Mittelschicht. Die Situation vor dieser Wahl sehe ich so: Von Merkel gibt es kaum relevante Aussagen. Schulz verspricht einiges, aber ob das vernünftig umgesetzt wird, bezweifle ich. Am ehesten fühle ich mich bei den Linken aufgehoben, auch wenn ich die oft polarisierenden Reden von Wagenknecht nicht gut finde. Mit wirklich gutem Gewissen kann ich im aktuellen politischen Spektrum eigentlich keine Partei wählen. Ich wünsche mir, dass jeder Politiker seine Nebeneinkünfte offenlegen muss. Und dass Deutschland sofort konsequent aus den fossilen Energien aussteigt, dass man nicht mehr günstiger fliegen als Bahn fahren kann, dass es mehr Radwege gibt und der Nahverkehr kostenlos wird. Wichtig ist für mich auch die Friedensarbeit. In Deutschland sind immer noch einsatzbereite Atomwaffen gelagert. Deutschland liefert Waffen in Krisengebiete und stuft Herkunftsländer wie Afghanistan teilweise als sicher ein. Das sind für mich absolute No-Gos. Ich finde es wichtig, Flagge zu zeigen, mit Demos, Bannern und Aktionen, natürlich gewaltfrei. Das unterstütze ich, zum Beispiel, indem ich bei Demos kostenlos für Bands und Redner am Mischpult stehe."

Lea Knežević, 21, studiert Politik und Recht in Münster

"Ich bin in Münster seit mehr als zwei Jahren in der Jungen Union aktiv, wählen darf ich aber nicht. Das ist total absurd, aber für mich trotzdem ein Weg in die Zukunft, weil ich Politikerin werden will. Ich wurde in Deutschland geboren und war elf, als meine Eltern in ihre kroatische Heimat zurückkehrten, deshalb habe ich noch keine deutsche Staatsbürgerschaft. Natürlich wäre es schöner, ich könnte meine Stimme abgeben, aber ich freue mich über jede andere Stimme für meine Partei. Es gibt so viele Dinge, die man als Mensch, als kleines Individuum, mit Hilfe der Politik verändern kann. In Kroatien war ich in der HDZ, die sich zu einer Volkspartei der Mitte ähnlich der CDU entwickelt. Jetzt, im Bundestagswahlkampf, verteilen wir Flyer an Infoständen, reden mit den Leuten, organisieren Podiumsdiskussionen, neulich habe ich ein Christentum-Frühstücksquiz organisiert. Es sind enorm viele junge Leute zur Jungen Union gestoßen in letzter Zeit, mehr als sonst vor Wahlen, das ist großartig. Ich selbst interessiere mich für die Jugend, für Familienpolitik, und am Herzen liegt mir das Thema Integration. Als meine Eltern hierher kamen, mussten sie sich integrieren, als sie mich mit zurücknahmen, musste ich mich integrieren. Angela Merkels Offenheit fand ich gut, jetzt ist es wichtig, dass sich die Leute einfinden. Es ist richtig, dass die CDU sagt, wer hier leben will, muss die deutsche Sprache und Kultur erlernen, sich Arbeit suchen und die freiheitlich-demokratische Verfassung wertschätzen."

Emma Heller, 23, studiert Politik und Soziologie in Baden-Württemberg

"Ich habe in den letzten Wochen Drohbriefe von rechts bekommen, deshalb steht hier nicht mein richtiger Name und auch nicht, in welcher Stadt ich lebe. Die Drohungen haben mich eingeschüchtert. Sie richten sich gegen meine politische Einstellung und meine Arbeit in der Studierendenvertretung. Bisher habe ich ungültig gewählt, das werde ich auch diesmal tun. Ich will kein Teil dieses Wahlsystems werden, weil man damit keine grundsätzlichen Veränderungen bewirken kann. Wir brauchen ein anderes Wirtschaftssystem und die Abschaffung der Staatsbürgerschaften. Das ist eine Utopie, schon klar, aber ich sehe nicht, was es mir helfen würde, sie aufzugeben. Unsere Realität entwickelt sich falsch, seit Jahrzehnten wird am Sozialstaat gespart, nicht genug in Bildung investiert und das Asylrecht verschärft. Der Rechtsruck zeigt sich nicht nur in der AfD, er prägt auch SPD und CDU, zum Beispiel in der Sicherheits- und Überwachungspolitik.

Am nächsten steht mir noch die Linke. Aber viele ihrer Positionen sehe ich äußerst kritisch. Bodo Ramelow fährt in Thüringen keine bessere Flüchtlingspolitik als andere Bundesländer. Martin Schulz wiederum ist sehr bemüht zu zeigen, dass die SPD eine soziale Partei ist. Aber das nehme ich ihm nicht wirklich ab. Ich wurde politisch erzogen, es war meinen Eltern immer wichtig, dass wir politische Kontexte mitbekommen. Ich will durchschauen, wie die Gesellschaft funktioniert. Deshalb studiere ich neben Politik auch Soziologie. Die Jobperspektiven in der Politik sind für mich nicht interessant. Ich bin sehr idealistisch und meine linke emanzipatorische Einstellung steht konträr zum jetzigen System von Staat und Gesellschaft. Ich glaube nicht, dass es sich von innen verändern lässt."

Johann Aschenbrenner, 17, Schüler in Hamburg

"Ich habe bei der ersten Obama-Wahl angefangen, mich für Politik zu interessieren. Da war ich erst acht Jahre alt, aber das hat mich gepackt. In letzter Zeit hat mich aufgeregt, dass die CDU und Dobrindt die Autoindustrie mit Samthandschuhen anfassen, obwohl die so viel Mist gemacht hat. So was macht mich richtig sauer. Seit einem Jahr leite ich unsere Schülerzeitung, die erste Ausgabe hatte das Thema 'Gespaltene Gesellschaft'. Ein amerikanischer Schüler, der bei uns an der Schule war, hat nach seiner Rückkehr in die USA über Trump geschrieben. Und eine Freundin hat beim Austausch in England über den Brexit berichtet. Bei den Model United Nations, das sind viertägige UN-Konferenzsimulationen für Schüler und Studenten, war ich kürzlich Delegierter für Thailand. Da habe ich gemerkt, wie kompliziert und frustrierend es ist, auf internationaler Ebene eine Lösung zu finden. Am Ende hatten wir eine schwammige Resolution, von der wir wussten, die wird nicht viel bringen. Deswegen kann ich mir auch nur schwer vorstellen, in die Politik zu gehen.

Schade, dass ich noch nicht wählen darf. Viele verzichten darauf, weil sie mit keiner Partei voll übereinstimmen, das halte ich für falsch. In der Demokratie geht es um Kompromisse. Wobei - begeisternd ist dieser Wahlkampf wirklich nicht. Es gibt keinen Obama oder Trudeau, die einen mit ihrer Vision mitziehen, sondern nur Merkel und Schulz. Bei Schulz gefällt mir einiges, aber keine der beiden Parteien hat ein mitreißendes Programm. Es ist natürlich schwer für die SPD, nach vier Jahren Regierungsbeteiligung glaubwürdig zu vertreten, wie sie plötzlich mehr Gerechtigkeit ins Land bringen will. Die Grünen würde ich vielleicht wegen des Klimawandels wählen. Wenn sie aber die CDU ins Kanzleramt hieven kann, dann hat man eine sehr starke CDU, die die kleinen Grünen herumschubst. Das wäre nicht in meinem Sinn."

Carla Kuhn, 24, Fachoberschülerin in Leipzig

"Ich muss mich noch besser informieren über die Ideen der Parteien, etwas Zeit habe ich ja noch. Eine offene Flüchtlingspolitik ist mir wichtig, und was in den Schulen passieren soll. Ich hab viele verschiedene Schulen besucht in verschiedenen Bundesländern, und das war schwierig, weil die Leistungsanforderungen und die Optionen, die man hat, nicht einheitlich sind. Eigentlich habe ich ein Fachabi, aber in Sachsen gilt das nicht, und genau da bin ich gelandet. Deshalb muss ich jetzt noch zwei Jahre Fachoberschule machen. Das System müsste viel einheitlicher sein. Ich finde es auch hart, dass man in der vierten Klasse entscheiden muss, wo man hingeht, ob man später mal studieren will. Das sollte man erst in der sechsten, siebten oder achten Klasse entscheiden müssen. Oder noch besser: Alle lernen zusammen auf einer Schule, und wer in Deutsch klasse ist, aber nicht in Mathe, kann in den verschiedenen Fächern auf verschiedene Levels aufsteigen."

Lorenz Grundmann, 23, studiert Biologie in Freiburg

"Beim letzten Mal habe ich Grün gewählt, aber da war ich erst 19 und noch relativ uninformiert. Diesmal bin ich unentschlossen. Merkel fährt ja diesen seltsamen Kurs, einfach nur ihr Bild auf die Wahlplakate zu hauen. Und Schulz bleibt mit seiner Gerechtigkeitsfrage auf der nationalen Ebene. Gerechtigkeit brauchen wir, aber nicht nur hier. Ich wünsche mir von der Politik konkrete Lösungen für Willkommenskultur und Migration und eine klare Aussage für internationale Gerechtigkeit: Ab jetzt verzichten wir auf unsere wirtschaftlichen Vorteile in Afrika und helfen, dort eine Ökonomie aufzubauen, die den Menschen wirklich dient. Außerdem vermisse ich klare Zeichen für den Naturschutz und gegen Agrarlobby und Autolobby. Dass die Autoindustrie staatliche Regeln mit den Füßen tritt und von der Politik auch noch in Schutz genommen wird, finde ich erschreckend. Da wird mehr auf die Interessen der Wirtschaft als auf die der Bevölkerung geachtet.

Als ich so 14, 15 war, hatten wir eine Religionslehrerin, die uns viel diskutieren ließ. Seitdem interessiere ich mich für Politik. Ich war auch schon oft demonstrieren, wegen Schulthemen, gegen Atomkraft, zuletzt gegen die AfD. Ich denke, die Grünen vor 20 Jahren wären eigentlich meine politische Ausrichtung. Sozial, Umweltschutz, eher links. Aber diese Grünen gibt es nicht mehr."

© SZ vom 19.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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