Italien:Das gute Leben

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Im italienischen San Patrignano müssen Drogensüchtige ein Handwerk ausüben und sich der klösterlichen Gemeinschaft fügen. Über ein erstaunlich erfolgreiches Therapiekonzept.

Von Thomas Steinfeld

Es ist Frühling auf den Hügeln oberhalb von Rimini, die Felder sind gepflügt, die Olivenbäume werden gerade geschnitten. In den Hainen habe er damals angefangen, mit der Gartenschere zu arbeiten, erzählt Christopher, der vor vier Jahren nach San Patrignano kam. Christopher, Ende dreißig, stammt aus Atlanta im amerikanischen Bundesstaat Georgia und hatte über italienische Verwandte in die Marken gefunden. Nach zwei Jahrzehnten, in denen er jede ihm erreichbare Droge genommen hatte: Heroin und Metamphetamin, Kokain und Alkohol. Dann besaß er nichts mehr, keinen Beruf, kein Geld, nicht einmal mehr Eltern. "Sie nehmen dich, wenn du ihnen zeigst, dass du hierhin willst und an keinen anderen Ort", sagt er. "Du musst hartnäckig sein und immer wieder anrufen oder skypen oder was auch immer."

Eine Bäckerei, eine Käserei, eine Schreinerwerkstatt: Das Gut ist weitgehend autark

Warum Menschen wie er unbedingt nach San Patrignano wollen? Weil dieses Zentrum eine Rehabilitationsquote von mehr als siebzig Prozent erreiche, wie unabhängige Experten bestätigen. Eine solche Quote sei äußerst selten, meist seien die Verhältnisse umgekehrt.

Nur eine Kirche in einem kleinen Dorf auf den Hügeln war San Patrignano vor vierzig Jahren, nicht alt, nicht bemerkenswert, unbekannt schon unter Menschen, die nur ein paar Kilometer entfernt wohnten. Eine wenig befahrene Straße führte hinauf, oben lag ein kleiner Hof. Mitte der Siebzigerjahre fiel dieses halb marode Anwesen mit seinen zwölf Hektar Grund einem Geschäftsmann aus der Stadt zu. Vincenzo Muccioli betrieb ein Hotel in Rimini und begann in den Hügeln mit einer Hundezucht. Einem durch die Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera kolportierten Gerücht zufolge soll er in diesem Haus auch okkulte Treffen veranstaltet haben, in denen er selbst als Medium auftrat. Dann änderte sich der Charakter des Hofes: Vincenzo Muccioli nahm die ersten Drogensüchtigen auf, junge Leute, die im größten Badeort an der Adria auf der Straße gelandet waren.

San Patrignano ist heute eine Kleinstadt, die sich in Gestalt einer ganzen Reihe großer und kleiner Gebäude über zwei oder drei Hügel erstreckt. Die Häuser sind gepflegt, der Rasen ist grün und frisch geschnitten, in den Fugen der Bordsteine wächst kein Gras. Einheitlich beigefarbene, ziemlich neue und offenbar frisch gewaschene Kleinwagen fahren durch das Gelände. Gut 2000 Menschen leben in diesem Gemeinwesen, das durch einen hohen, aber keineswegs unüberwindlichen Zaun vom Rest der Welt abgegrenzt ist. Auf mehr als zweihundert Hektar wird Landwirtschaft betrieben, es gibt eine Viehzucht, sowohl für die Herstellung von Molkereiprodukten als auch für die Fleischproduktion, es wird Wein angebaut und gekeltert. Man verfügt über eine Bäckerei, eine Käserei, eine Schreinerwerkstatt, einen Friseursalon und eine Metzgerei und stellt die Elektrizität selber her, über Sonnenkollektoren und eine Anlage zur Verarbeitung von Methangas. Zum Unternehmen gehört sogar eine Abteilung für grafisches Design und eine Druckerei.

"Wenn du hier hingehst", sagt Christopher, "lässt du deine alte Welt hinter dir. Du trägst saubere Kleidung, du rauchst nicht, du achtest auf dich. Du hinterlässt keine Unordnung, nirgendwo."

San Patrignano ist autark, auf ähnliche Weise, wie mittelalterliche Klöster sich selbst versorgten, doch auf der Höhe des technischen Fortschritts und mit einem deutlich erkennbaren Willen zur guten Form - so wie alle Maschinen aus der jüngsten Produktion zu kommen scheinen, so wirken die Gebäude und die Einrichtungen, als wären sie aus einem Designwettbewerb hervorgegangen. Auch sind die Mönche von besonderer Art: Es sind mehr als 1300 ehemalige Drogensüchtige, Männer und Frauen, die drei oder vier Jahre auf dem Gut leben, bevor sie in die Welt zurückkehren. Aber es soll nicht die Welt sein, aus der sie gekommen waren. Gemeinsam bilden sie die größte Einrichtung zur Rehabilitation ehemaliger Drogenabhängiger in Europa.

San Patrignano ist berühmt. Nicht nur in Italien, dem Land, in dem der Arzt Franco Basaglia in den Siebzigerjahren die Psychiatrie zu einer "Institution der Gewalt" erklärte und die Schließung der entsprechenden Kliniken republikweit durchsetzte, sondern auch in anderen Ländern, und das nicht nur der therapeutischen Erfolge wegen. Denn San Patrignano ist ein Weingut, dessen Spitzenprodukt, ein Sangiovese mit dem Namen "Avi" (das heißt: "a Vincenzo") mit den drei roten Gläsern prämiert ist, die der italienische Weinführer "Gambero Rosso" als höchste Auszeichnung vergibt. Die Patienten von San Patrignano selbst trinken keinen Wein. Zu San Patrignano gehört ferner eine Pferdezucht, aus der eine Reihe von Tieren hervorging, die auf internationalen Turnieren und bei Olympischen Spielen erfolgreich waren: Weihaiwej und Joli Cœur, die beiden Pferde, mit denen der deutsche Springreiter Franke Sloothaak jeweils mehr Wettbewerbe gewann als mit irgendeinem anderen Tier, trugen beide den Vornamen San Patrignano. Und so wie mit den Weinen und den Pferden ist es mit fast allem, was von diesem Gut kommt: Es steht für Qualität.

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(Foto: Gabriele Bertoni/San Patrignano)

Alltag in San Patrignano: Bis zu 1500 Menschen...

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(Foto: Gabriele Bertoni/San Patrignano)

... finden in der weitläufigen Anlage Platz, jeder von ihnen soll in einem der Gewerke arbeiten.

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(Foto: Gabriele Bertoni/San Patrignano)

Das Gut in den Marken verfügt über moderne Werkstätten, die auch große Designer wie Chanel, Zegna oder Ferragamo beliefern.

Auch wenn es hier keine kirchliche Frömmigkeit gibt, ist dieser Ort auch eine Art Kloster. Christopher trägt ein Habit, so wie alle hier ein Habit tragen: beigefarbene T-Shirts mit der Aufschrift "San Patrignano" und graue Jeans. Bei der Arbeit (und nachts sowieso) sind die Geschlechter getrennt: "Ursprünglich war das anders, aber es ging nicht gut", sagt Christopher. Wer hier lebt, muss nichts zahlen, aber er ist und bleibt arm. Er unterwirft sich einem geregelten Tagesablauf, er arbeitet, er wird ausgebildet, nach Interesse und Neigung, auf die bestmögliche Weise und auf dem jüngsten Stand der Technik. Christopher hat sogar wieder angefangen zu studieren, Pädagogik und Medientechnik. Er sei nicht der Einzige, sagt er, der hier studiert.

Jeder Ankömmling wird zunächst in einem Anwesen außerhalb des Geländes untergebracht, wo sich erweisen soll, ob er für ein Leben in der Gruppe taugt. Im positiven Fall bekommt er einen Mentor - jemanden, der schon länger in San Patrignano weilt - und wird einer Gemeinschaft von sechs Menschen zugewiesen. Jeweils zwei Gruppen teilen sich einen Schlafsaal. Ein solches Kollektiv ist, wenn es um die Durchsetzung von Disziplin geht, offenbar stärker als eine Hierarchie (das geht nicht immer gut: Einmal, im Jahr 1989, gab es sogar einen Mord unter Patienten). Die Pädagogik ist selbstgemacht und war zu Beginn außerhalb des Zentrums umstritten. "Zombies" wurden die Patienten in den Anfangsjahren in der italienischen Presse genannt. Jetzt scheint man sich daran gewöhnt zu haben.

"Ospiti", also "Gäste", heißen die Patienten von San Patrignano. Ihnen gegenüber stehen etwa 350 Angestellte und um die hundert Freiwillige. Zu den Angestellten gehören ein paar Zahnärzte, die eine kleine Dentalklinik betreiben - Metamphetamine zerstören unter anderem die Zähne - und Ärzte für die Krankenstation, in der man sich besonders um Aids kümmern muss. Zum Stammpersonal gehören aber auch die Meister und Fachkräfte, die man für die Berufsausbildung in San Patrignano braucht: der Önologe und der Pferdezüchter, der Computerfachmann, der Drucker und der Grafiker, der Elektriker und die Pressereferentin. Viele von ihnen leben auf dem Gelände, ähnlich wie es bei großen psychiatrischen Kliniken in Deutschland auch der Fall ist.

Davide und Lucia, die beiden Führer, ziehen sich dezent zurück, wenn ein "Gast" seine Arbeit erklärt. Giovanni, der Bäcker, zum Beispiel: Er zeigt seine "panettoni" und seine "biscotti" mit Minze. Er besteht darauf, dass der Besucher probiert, denn er ist stolz auf das, was er macht. Dieser Stolz verbindet ihn mit den Leuten in der Tapetenmanufaktur, wo man per Hand nach alten Mustern druckt, oder denen in der Schreinerei, wo alte Möbel restauriert werden. Die in San Patrignano betriebenen Gewerke sind - von den notwendigen abgesehen, also etwa der Küche, der Wäscherei und der elektrischen Werkstatt - ein Spiegel des anspruchsvollen Handwerks, in einigen Bereichen auch der Kleinindustrie, die es traditionell in dieser Gegend gibt. Draußen, im freien Wettbewerb, verschwinden die dazugehörigen Berufe. In San Patrignano leben sie fort. Die Arbeitskosten spielen eine viel geringere Rolle - und die Werkstätten bringen, materiell betrachtet, das Gegenteil von Arbeitstherapie hervor, nämlich hochwertige Waren. Deswegen können Allianzen mit den Produzenten von Luxusgütern entstehen: Die Werkstätten arbeiten auch für Ferragamo, Chanel, Malo oder David Beckham. Ermenegildo Zegna oder Daniel Libeskind entwarfen Möbel für San Patrignano. Bei den Friseuren hat sich L'Oréal engagiert: Christopher trägt nicht ganz zufällig einen Schopf wie Brad Pitt.

Drogenabhängigkeit, heißt es hier, sei keine Krankheit. Wer so argumentiere, nehme den Betroffenen nicht nur die Verantwortung für ihr eigenes Leben: Er liefere dem Staat auch ein Argument, sich darauf zu beschränken, die Allgemeinheit vor den Folgen der Sucht zu schützen, etwa durch die Stabilisierung von Abhängigen mit Ersatzdrogen. Über den Umgang, der in San Patrignano mit der Sucht gepflegt wird, lässt sich zumindest sagen, dass er Drogen als das wahrnimmt, was sie tatsächlich sind: Jede Droge ist eine Ersatzdroge. Jeder Griff danach ist ein Versuch, sich auf etwas zu stützen, das weggebrochen ist und immer wieder wegbricht, ein Versuch, so etwas wie Glückseligkeit in Gestalt ihres flüchtigsten Surrogats zu erhaschen, in einsamen und am Ende stets hoffnungslosen Räuschen. Auch das Gut in den Marken ist ein Versuch, nämlich der, die Welt am Auseinanderfallen zu hindern, auf beschränktem Raum und für eine beschränkte Zeit, in Gestalt eines möglichst erfolgreichen Unternehmens.

San Patrignano ist kein Modell für den Umgang mit Drogenabhängigen schlechthin. Mehrere Hunderttausend von ihnen gibt es in Italien. Nicht einmal die Hälfte von ihnen wird medizinisch oder psychologisch betreut. Höchstens 1500 kann San Patrignano gleichzeitig beherbergen, mehr als 30 000 waren es bis jetzt. Aufgenommen werden nur Menschen, die den Drogenentzug bereits hinter sich haben, und sie müssen bleiben, bis sie sich selber für stabil genug halten, außerhalb des Gutes zurechtzukommen, und bis das frühere Milieu keine Anziehungskraft mehr auf sie ausübt. Die Therapie wird weder vom Staat noch von einer Versicherung getragen. Nicht, weil es nicht möglich wäre, sondern weil es nicht sein soll, denn eine solche Unterstützung widerspräche dem Prinzip der absoluten Freiwilligkeit.

20 Millionen Euro kostet der Betrieb im Jahr, die Hälfte wird durch Spenden finanziert

"Man muss wollen", sagt Christopher immer wieder, "wirklich wollen". Der Erfolg lässt sich sogar berechnen: Etwa 35 Euro pro Tag soll ein Patient in San Patrignano kosten, für einen Strafgefangenen gilt in Westeuropa durchschnittlich ein Tagessatz von 100 bis 150 Euro. Dabei nimmt das Gut sogar Strafgefangene auf, sofern sie wegen eines Drogendelikts verurteilt sind: Einige Tausend waren es bislang, die keine Gefängnisstrafe verbüßten, sondern "Gäste" in San Patrignano wurden.

Vincenzo Muccioli gründete die Einrichtung nicht allein, auch wenn sein Bild und seine Leitsätze in San Patrignano an vielen Wänden hängen, beinahe wie bei einem Sektenführer. Unterstützt wurde Muccioli von der Unternehmerfamilie Moratti in Mailand, die zu den mächtigsten Dynastien in Italiens Wirtschaft gehört. Letizia Moratti, San Patrignanos Mäzenin, war Präsidentin des italienischen Rundfunks (RAI), Bildungsministerin in zwei Kabinetten Silvio Berlusconis und Bürgermeisterin von Mailand. Sie ist, seit Vincenzo Muccioli 1995 starb, die in der Öffentlichkeit sichtbarste Vertreterin des Gutes. Ohne dieses Mäzenatentum könnte San Patrignano nicht bestehen: Von den gut 20 Millionen Euro, die der Betrieb pro Jahr kostet, bringt es selbst nur etwas mehr als die Hälfte auf. Der Rest kommt aus Spenden.

Im Gespräch schaut Christopher seinem Gegenüber gerade in die Augen, er scheut keine Antworten, auch nicht die schwierigen. Ebenso angenehm ist es, sich mit dem jungen Mann zu unterhalten, der die Abfüllanlage beaufsichtigt, in der gerade ein weißer Wein namens "Aulente" ("wohlriechend") auf Flaschen gezogen und etikettiert wird. Er ist ganz begeistert von der mechanischen Perfektion, mit der sein glänzender, aus unzähligen Edelstahlteilen bestehender Apparat arbeitet. Gewiss, man ist Besucher, aber keiner der Patienten müsste deswegen freundlich und entgegenkommend sein. Doch jeder ist es.

Am Weg zurück nach Rimini liegt eine Pizzeria, wenige Hundert Meter vor dem Tor, das nach San Patrignano hineinführt. Auch das Lokal gehört zum Gut. Der Bau ist neu, außen wie innen, und würde sich jederzeit für eine Reportage in einer Zeitschrift für zeitgenössische Architektur empfehlen. Und die Pizza? Es dürfte nicht so leicht sein, eine bessere zu finden.

© SZ vom 16.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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