Historie:Mit Nachdruck

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Vor 500 Jahren gab Erasmus von Rotterdam das Neue Testament heraus - und veränderte den Umgang mit heiligen Texten für immer.

Von Johan Schloemann

Abgeschlagene Köpfe, verstümmelte Bilder, weiße Tünche drüber. Die Tünche hat man inzwischen wieder abgekratzt, aber die Verstümmelungen sind geblieben. Die Rede ist von einer christlichen Grabplatte, sie ist in die Wand des Kreuzgangs eingelassen, neben dem Münster, dem evangelischen Dom von Basel, der über dem Rhein thront. Es war kein Kämpfer des "Islamischen Staates", der hier mit dem Beil gegen die Ungläubigen und ihre Skulpturen gewütet hat. Nein, es waren christliche Bilderstürmer, radikale Anhänger der Reformation, die gegen Kunstwerke, Heiligenverehrung und Personenkult die Axt schwangen, in den Jahren 1528 und 1529. Die Wunden klaffen bis heute. Zur selben Zeit fingen sie an, ein äußerst strenges Reformationsregime in Basel durchzusetzen, mit Sittenvorschriften, Alkoholbeschränkung und einer minutiösen Kleiderordnung für Männer und Frauen.

Erasmus von Rotterdam fand das alles furchtbar. Er lebte seit 1514 die meiste Zeit in Basel, er war ein frommer Christ, aber er liebte die Freiheit und verabscheute den Fundamentalismus.

Er war der größte Humanist, der eleganteste Stilist, der beliebteste Satiriker, Pazifist und einer der bedeutendsten Theologen seiner Zeit. Aus ganz Europa wurden ihm Lehrstühle und Kardinalswürden angetragen, die er aber ablehnte. Der beste Porträtist der Renaissance, Hans Holbein der Jüngere, hat ihn mehrmals gemalt. Erasmus war so berühmt und konnte so gut schreiben - auf Lateinisch natürlich, dem Englischen seiner Zeit -, dass er zu Lebzeiten schon begann, seine privaten Briefe drucken zu lassen, zur selben Zeit, als jene Bilderstürmer ihr Unwesen trieben. Die Veröffentlichung der privaten Korrespondenz war damals eine unerhörte Eitelkeit, in diesem Fall aber auch sehr willkommen, denn viele griffen sich die Formulierungen des Erasmus als Muster, wenn sie mal wieder mit einer schicken Epistel irgendwo Eindruck machen wollten.

Erasmus' Schriften wurden vom Vatikan auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt

Dieser große Mann nun, der ein Jahr später ein erfolgreiches Benimmbuch herausbringen sollte - "De civilitate morum puerum", ein Ratgeber, wie es junge Leute aus nicht-adligem Hause mit höflichen Umgangsformen zu etwas bringen können -, dieser weltgewandte Erasmus hielt die eher groben Umgangsformen, die Engherzigkeit und Gewaltsamkeit der Reformatoren in Basel einfach nicht mehr aus. Gewiss, er hatte selbst anfangs die Kritik am Zustand der katholischen Kirche befeuert, die Kritik an den Klöstern und Wallfahrten und Heucheleien, an allen, denen der Klerus und kirchliche Vorschriften aus Rom wichtiger geworden waren als das Evangelium; ja, Erasmus kann selbst als einer der großen Reformatoren gelten. Und er hatte hier in Basel die Grundlage für eine Revolution der Bibelwissenschaft gelegt, eine Revolution, die die Bedeutung von heiligen Texten langfristig und für immer verändert hat - dazu gleich mehr. Aber diese abstoßende, radikale Art von Reformation, die hatte er nicht gewollt, und so packte er seine Sachen, verließ Basel düsteren Sinnes und zog nach Freiburg im Breisgau. Obwohl er schon sechzig Jahre alt war.

Wie anders hatte es in seinen früheren Jahren in Basel geklungen. Mit humanistischem Optimismus hatte Erasmus auf sein Zeitalter geblickt, bevor die Kirchenspaltung und Konfessionskonflikte begonnen hatten. 1517 schrieb er an einen Prediger am Basler Münster: "Ich sehe schon bald eine neue Art von Goldenem Zeitalter anbrechen. (. . .) Die guten Sitten, christliche Frömmigkeit, aber auch die reine echte Wissenschaft und die schönen Künste werden wieder aufblühen." Und Erasmus hatte auch Grund zur guten Laune, denn gerade erst konnte er auf einen großen wissenschaftlichen und publizistischen Erfolg verweisen, den er jetzt mit mehreren neuen Auflagen weiterführte. Gemeint ist die Veröffentlichung seiner bahnbrechenden Ausgabe des Neuen Testaments unter dem Titel "Novum Instrumentum" im Jahr 1516, vor jetzt 500 Jahren.

"Am Anfang war das Wort", Beginn des Johannesevangeliums in verschiedenen Auflagen, rechts mit Anmerkungen eines Rechtsgelehrten. Unten ein Porträt des Erasmus von Hans Holbein d. J., 1523. Abbildungen: UB Basel, Sammlung Kunstmuseum Basel (Foto: N/A)

In Basel feiert man dieses Jubiläum in diesem Sommer recht ausgiebig, und im Herbst dann noch weiter, im fließenden Übergang zum 500. Reformationsjubiläum im nächsten Jahr - von Erasmus zu Martin Luther. Es gibt mehrere Ausstellungen zu sehen. Der Stadtraum ist mit Erasmus-Zitaten beschrieben, sie sind auf dem Asphalt angebracht wie Straßenmarkierungen. Ein neu produziertes Radio-Hörspiel begleitet einen per Handy-App beim "Erasmus-Trail" zu den Schauplätzen der Stadt, die in Teilen des Zentrums noch so aussieht wie vor Jahrhunderten.

Außerdem: Ein Diskussions-Floß wurde in den Fluss gelassen, darauf finden schwimmende Debatten zur Lage Europas statt, weil Erasmus eine europäische Zentralfigur ist und der Rhein ein europäischer Fluss. Im Historischen Museum von Basel wird man mit einem iPad-Parcours durch die Erasmus-Ausstellung geleitet, bis man am Ende Erasmus' Tafelmesser sowie denselben Siegelring im Original bewundern kann, den Erasmus am Finger hatte, als Holbein ihn malte - siehe das Bild hier nebenan. Es finden Typografie-Wettbewerbe statt, wegen der Bedeutung von Erasmus' Werk für die Schrift- und Druckgeschichte, dazu Vorträge, eine Disputation mit Margot Käßmann, Slam-Poetry und vieles mehr.

Man könnte sich fragen: Warum wird der fünfhundertste Geburtstag eines einzigen Werkes derart begangen, wenn die Ausgaben von Erasmus' Schriften in den Bibliotheken mehrere Meter einnehmen? Sind nicht das "Lob der Torheit" und die "Klage des Friedens" seine berühmtesten Bücher? Und wenn es um das Neue Testament geht - gab es die Bibel damals nicht schon länger?

Aber die Ausgabe von 1516 ist tatsächlich in mehrerer Hinsicht epochal. Erst einmal ist es die allererste vollständige gedruckte Publikation des Neuen Testaments in der griechischen Originalsprache überhaupt. Man nennt das eine Editio princeps: Nachdem im Mittelalter die alten Texte in immer wieder abweichenden einzelnen Kopien voneinander per Hand abgeschrieben werden mussten, bekamen sie jetzt, seit dem Beginn des Buchdrucks um 1450, eine reproduzierbare, leicht verbreitbare Form. Der Druck revolutionierte die Zugänglichkeit und Vergleichbarkeit der Texte, über ein paar Klosterbibliotheken und schreibkundige Mönche hinaus. Obwohl die Evangelien von Jesus und die Briefe des Apostels Paulus ursprünglich in dieser Sprache verfasst und überliefert waren, waren die Kenntnisse des Griechischen im westlichen Europa lange Zeit dürftig gewesen. Jetzt aber blühte das Studium des Griechischen wieder auf, von Florenz und anderswoher tönte der Ruf des Renaissance-Humanismus, den Erasmus mitrief: "Ad fontes!" - "Zu den Quellen!"

So kam es, dass die wichtigsten, heiligsten Texte der Christenheit erst im Jahr des Herrn 1516 der Christenheit im Originaltext breit zugänglich wurden. Die Idee war: Bibelstudium für alle, nicht nur für Kleriker! Erasmus konnte, um sich den Text zusammenzustellen, auf einige griechische Handschriften in Basel zurückgreifen, die er dort in den Klöstern der Kartäuser und Dominikaner fand und die heute in der Basler Universitätsbibliothek verwahrt werden. Diesen Medienwandel von der Handschrift zum gedruckten Buch zeigt gerade eine Ausstellung mit wertvollen Exponaten im Chorraum des Basler Münsters, wo Erasmus auch begraben liegt. Denn Erasmus kam am Ende seines Lebens doch noch einmal nach Basel zurück, er starb dort 1536. Und obwohl der Totenkult mit Prominentengräbern eigentlich reformationshalber noch verboten war, machte die Stadt für ihn eine Ausnahme.

Der griechische Text des Erasmus blieb dann jahrhundertelang maßgeblich, bis die biblische Philologie im 19. Jahrhundert präziser wurde. Wie schwierig seine Pioniertat noch war, zeigt ein geradezu irres Detail: Kurz bevor die mit Anmerkungen 1000-seitige Ausgabe nach nur anderthalb Jahren Arbeit in den Druck gehen sollte, fehlten Erasmus in den Handschriften noch einige Seiten am Schluss der Offenbarung des Johannes - also die letzten Seiten der Bibel überhaupt. Um das Projekt aber nicht scheitern zu lassen, übersetzte er kurzerhand selber die fehlenden Passagen aus der lateinischen Übersetzung - in ein eigenes, quasi-biblisches Griechisch.

Ebenso unerhört war es, den griechischen und den lateinischen Bibeltext zweispaltig nebeneinander zu drucken. Dies war mehr als eine elegante drucktechnische Entscheidung, eine Layout-Idee. In der Gegenüberstellung drückte sich schon der Tabubruch aus: Es gibt nicht einen göttlichen Text, an dem der Glaube hängt, sondern er hat historische Voraussetzungen. Und nicht allein die Theologie, auch die Philologie, also die Sprach- und Literaturwissenschaft, ist für die Bibel zuständig, für die Textkritik.

Man kennt ähnliche Diskussionen heute über den historisch-kritischen Umgang mit dem Koran. Erasmus ahnte schon früh, welche Provokation das darstellte: "Die Theologen werden voller Hass dagegen aufschreien, obwohl sie am meisten davon profitieren könnten. Welche unerträgliche Verwegenheit, sagen sie, wenn der Grammatiker, nachdem er die übrigen Disziplinen schon zerrüttet hat, nun auch die Heiligen Schriften nicht mit seiner schändlichen Feder verschont."

Daher wurde es auch als ein mindestens so historischer Einschnitt empfunden, dass nicht nur der griechische, sondern auch der lateinische Text der Evangelien vor Eingriffen der "schändlichen Feder" nicht sicher war. Erasmus nahm nämlich Korrekturen daran vor, diskutierte verschiedene Textfassungen. Das aber bedeutete: Er vergriff sich an dem Text, welcher der Kirche seit tausend Jahren heilig war, der Vulgata, dem Bibeltext, der auf den Heiligen Hieronymus zurückging.

Vor allem deshalb wurden Erasmus' Schriften 1558/59 vom Vatikan auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt - ein Verdikt, das sich allerdings nie ganz durchsetzen ließ, weil die Universitäten ohne Erasmus einfach nicht auskamen. Genau so, wie Martin Luther und seine Helfer nicht ohne Erasmus' Ausgabe auskamen, als sie die Bibel ins Deutsche übersetzten. Erasmus legte damit auch eine der Grundlagen der Reformation Martin Luthers, auch wenn er sich später mit ihm zerstritt.

Um zu ahnen, als wie gefährlich man die Gelehrsamkeit des Erasmus für die Christenheit ansah, muss man nur kurz drei zentrale Bibelstellen anschauen. Erstens hielt Erasmus die Formulierung "Vater, Wort und Geist und die drei sind eins" im 1. Johannesbrief für einen späteren Zusatz. Dies war aber die Belegstelle für die Lehre der Trinität, der Dreieinigkeit, deren Leugnung man Erasmus auch gleich vorwarf.

Zweitens übersetzte er das traditionelle "Tut Buße!" nach dem griechischen Original lieber mit "Besinnt euch!". Damit wurde aber die Pflicht hinterfragt, dem kirchlichen Apparat von Bußleistungen und Strafen zu folgen, anstatt selber umzudenken und seine Sünden zu bereuen - ganz ähnlich sagte es Martin Luther 1517 in seinen Ablassthesen. Und drittens zweifelte Erasmus anhand einer Stelle im Römerbrief an der Erbsünde, mit der alle Menschen seit Adam und Eva behaftet seien - Lehre der Kirche seit dem Heiligen Augustinus.

In Holland geboren, in Paris studiert und in Basel gestorben: Erasmus war ein Europäer

Viele denken heute bei "Erasmus" zuerst an ein europäisches Studentenaustauschprogramm. Das ist auch recht so, denn Erasmus stiftete seinen Nachlass als Stipendium für bedürftige Studenten, und er war ein Europäer. In Holland als unehelicher Sohn eines Priesters geboren, wirkte er unter anderem an der Universität Löwen, an der Sorbonne in Paris und in Cambridge, und auch überall sonst wäre er willkommen und zu Hause gewesen.

Warum also ausgerechnet Basel, die Stadt, die später zwar Berühmtheiten wie den Historiker Jacob Burckhardt und den Philosophen Friedrich Nietzsche beherbergte, damals aber, vor 500 Jahren, nicht mehr als 6000 Einwohner hatte? Das versucht der Basler Ausstellungssommer gerade zu erkunden: Es kamen mehrere Faktoren zusammen, ein aufstrebendes Bürgertum etwa und der große Fluss, ein gelehrtes Netzwerk, bedeutende Künstler und nicht zuletzt die Tatsache, dass Erasmus hier einen der besten und innovativsten Drucker fand, Johannes Frobenius, der eine große Investition wagte. Man könnte auch sagen: Medien, Kapital und Ideen verändern die Welt. Wie heute.

© SZ vom 23.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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