Historie:Im Gasthaus zur gewürgten Gans

Lesezeit: 5 min

Wenn der Rhein die Menschen, ihre Waren und Ideen verband, ging es Europa gut. Aber wehe, wenn nicht.

Von Joachim Käppner

Man muss heute schon in ziemlich weinseliger Stimmung zu sein, um die alte Frage zu stellen: "Warum ist es am Rhein so schön?" Schon vor dem Genuss des Weins ist vielerorts zu warnen: nassgezuckerte Plörre für den Massenbetrieb, deren fragwürdiger Genuss einen Kater der verheerendsten Art hervorruft. Das Gasthaus, in dem der bösartige Tropfen kredenzt wird, ist von außen vielleicht lockend, innen aber in Plastik umgestaltet, als wolle der Wirt das Ganze einmal mit dem Gartenschlauch säubern, bevor die nächste Busladung irregeleiteter Rentner hineinkomplimentiert wird. Viele Fachwerkstädtchen sind von donnernden Güterzügen, Parkplätzen und der Schnellstraße ihres Ufers beraubt, als drücke man einer Gans den Hals ab, bevor man sie zu Ehren des rheinischen Heiligen Martin verspeist. Schon in den Sechzigerjahren schrieb der Heidelberger Journalist Ernst Hess im Merian über die Rheinlandschaft: "Oft verspürt der Betrachter einen Hauch von Melancholie, verstärkt durch den deprimierenden Anblick verschneiter Campingplätze." Die Rheinromantik, ein tristes Abziehbild ihrer selbst.

"Mer losse d'r Dom en Kölle, denn do jehööt hä hin!"

Aber natürlich findet, wer Geduld zum zweiten und dritten Blick aufbringt, gar nicht so wenig von jenem Rhein, über den die Schriftstellerin Johanna Schopenhauer (1766 - 1838) sagte: "Nie sah ich eine anmutigere Landschaft." Burgartige Villen der Gründerzeit, Luftschlösser der Fantasie, in üppigen Gärten verwuchert wie in einer lange vergangenen Zeit. Die wackeren Winzer, die das Zeitalter der Glykolskandale überstanden und eine Renaissance des Rheinweins eingeleitet haben. Die stillen alten Gassen von Brauchbach oder Oberwesel, die unzerstörte Marksburg als Sitz der Deutschen Burgenvereinigung, die schattige Rheinpromenade mit Biergarten und Zolltor in Leutesdorf, die Pfalz bei Kaub, mitten im Rhein und natürlich der große Dom, den die Bläck Fööss für immer "en Kölle losse" wollen,

"denn do jehööt hä hin.

Wat sull di dann woanders,

dat hätt doch keine Senn."

Dieses Lied von 1973 ist übrigens nicht nur ein Klassiker des Karnevals, sondern auch eine beißende Satire auf die Absichten des Kölner Rates, selbst die Reste der alten Stadt wegzusanieren, welche den Bomben 1942 entgangen waren.

Der Rhein war und ist natürlich mehr als sein sagenhaftes, im 19. Jahrhundert vom warmen Licht der Rheinromantik verklärtes Mittelstück zwischen Mainz und Köln, jene Region, über die Lord Byron dichtete:

"Ein göttlich Werk sieht Harold - Täler, Flüsse

Fels Laub und Wald, Kornfelder, Früchte, Wein,

Herrenlose Burgen, hauchende Scheidegrüße

Wo der Verfall bewohnt umlaubte Mauern."

Der Rhein ist ein europäischer Fluss, und Größe wie Grauen Europas waren entlang seines gut 1230 Kilometer langen Laufs zwischen der Schweiz und der Nordsee auf engem Raum zu finden. Eine prächtige, kluge Ausstellung in der Bundeskunsthalle zeigt eine Biografie des Flusses im Herzen des Kontinents.

1 / 4
(Foto: Deutsches Historisches Museum/Arne Psille)

Auf dem Deck eines Rheindampfers, Gemälde von Harald Schiödte, 1890.

2 / 4
(Foto: Kunstbibliothek, SMB, Photothek Willy Römer)

Französische Soldaten am Deutschen Eck, Koblenz, 1923.

3 / 4
(Foto: Michael Lio/Museum zu Allerheiligen Schaffhausen)

Michael Lio: Rheinfall bei Schaffhausen mit Kanzel und Springer, 2005.

4 / 4
(Foto: Mittelrhein Museum Koblenz)

Blüchers Rheinübergang bei Kaub 1814 (Gemälde von Wilhelm Camphausen, 1859).

Es geht in Bonn also nicht allein um Romantik und Ruinen: "Der Rhein hat keine Gezeiten; er ist zeitlos . . . Er fungierte als Pforte, Festung und Grenze, Brücke und Furt", schreibt die Ausstellungsmacherin Marie-Louise von Plessen, die sich auch schon der Elbe und der Ostsee angenommen hat, im Katalog. Die "Flussbiografie" zeigt wunderbare Stücke wie den Römerschatz von Speyer, Originalschriften aus der Zeit Martin Luthers und ein Merkblatt zur Verwendung der Europafahne von 1953. Zu sehen sind auch der Begradigungsplan von 1822 - erst dann wurde der gemächliche, auenreiche Fluss wirklich zum Strom - und ein Wimmelbild von 1531: "Ansicht der Stadt Köln von der Rheinseite", ein Geschenk für Kaiser Karl V. und eine verblüffend präzise Darstellung samt Häusern, Schiffen, Gärten.

Bei all dem ist die Schau, richtig verstanden, zutiefst politisch, ein Spiegel Europas. Sie zeigt, wie ein- und dasselbe Phänomen, hier ein großer Fluss, die Menschen zu einander zu führen und zu trennen vermag, zu Partnern und zu Feinden macht. Europa ging es immer dann gut, wenn der Rhein die Menschen verband - durch Schifffahrt und Handel, durch den Austausch von Waren und Ideen. Dann wieder überschritten große Heere den Strom und zerstörten, was andere errichtet hatten.

357 vernichtete Julian Apostata, der letzte heidnische Kaiser Roms, bei Straßburg die Streitmacht der brandschatzenden Alemannen und trieb die Fliehenden in den Fluss, wo sie elend ertranken. Was wie die Rückkehr zu alter römischer Herrlichkeit aussah, blieb Episode, kaum ein halbes Jahrhundert später kamen die Germanen über den zugefrorenen Fluss; es war der Anfang vom Ende des maroden Weströmischen Reichs.

Die Wacht am Rhein: Ein Ungeist, schlimmer als der Drache, den Siegfried erschlug

Nach dem Ende der Stauferkaiser 1250 bauten mächtige Kurfürsten, ehrgeizige Regionalherren und Potentaten winzigster Territorien auf jedem zweiten Felsen Burgen und Gegenburgen, Grenzfesten und Zollmauern; Dutzende Male passierten Reisende entlang seines Laufs Grenzen, selbst wenn sie die deutschen Lande gar nicht verließen. Mächtige Städte und Festungen entstanden und versanken in den zahllosen Kriegen um die Mitte Europas und den Besitz seiner Ufer. Der eroberungsgierige französische Sonnenkönig Ludwig XIV. ließ die linksrheinischen Gebiete plündern und verwüsten. Viele der später als so romantisch betrachteten Ruinen wie jene des Heidelberger Schlosses stammen aus der blutigen Ära des "Mordbrenners und Wüterichs", wie seine Opfer hilflos klagten. 1794 begann die "Franzosenzeit" im Rheinland, am Neujahrstag 1814 setzte der preußische Marschall Blücher mit seinen Truppen bei Kaub über den Rhein, das berühmte Gemälde ist in Bonn ebenfalls zu sehen. Doch aus den Freiheitskriegen gegen Napoleon entstand ein neues Zeitalter der Unterdrückung, und nun geriet der Rhein in den Bann eines Ungeists, mit dem verglichen der alte Drache, den Siegfried laut der Nibelungensage erschlug, ein eher harmloses Würmchen war.

Alte Touristenkarte des Rheins. (Foto: Sammlung Rauch/Interfoto)

"Es braust ein Ruf wie Donnerhall

wie Schwertgeklirr und Wogenprall:

Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein.

Wer will des Stromes Hüter sein? Lieb Vaterland, magst ruhig sein

fest steht und treu

die Wacht am Rhein."

Besonders in der späteren Vertonung geriet Max Schneckenburgers Gedicht von 1840 zum Schlachtruf der deutschen Nationalisten. Der europäische Fluss, der so viele Staaten und Staatsgebilde durchlief und verband, wurde nun zum "Schicksalsstrom" verklärt. Im März 1945 überschritten US-Truppen den Rhein bei Remagen. Die Nazis hatten die dunklen Leidenschaften, die sich um ihn rankten, zuvor noch einmal vergeblich beschworen. Die Befreier hielt er nicht ab.

Frankreichs Außenminister Robert Schuman und der deutsche Kanzler Konrad Adenauer machten den Rhein fortan zu einer, wie Martin Winter im Ausstellungskatalog schreibt, "Achse der europäischen Idee". Das hatte der französische Schriftsteller Victor Hugo schon 1842 erahnt, als er notierte, der Rhein sei ein edler Fluss und "würdig, sowohl Frankreich als auch Deutschland anzugehören".

Diese Bonner Ausstellung erinnert eindrücklich an lange Phasen nationaler und ideologischer Obsessionen - was in einer Zeit nur hilfreich sein kann, in der so viele Europas Errungenschaften genießen, als seien sie das Selbstverständliche der Welt, und es gleichzeitig für jedwedes Übel verantwortlich machen. Der französische Schriftsteller Alexandre Dumas schrieb in seiner "Reise an die Ufer des Rheins" 1838, der große Fluss berge "außer Karpfen und Salmen" in seinen Wassern auch "eine Unzahl Najaden und Ungeheuer, gute oder böse Geister".

Der Rhein. Eine europäische Flussbiografie. Bundeskunsthalle Bonn. Ergänzend zeigt das LVR-Landesmuseum in Bonn die Ausstellung "Bilderstrom" über den Rhein und die Fotografie (beide bis 22. Januar 2017)

© SZ vom 08.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: