Historie:"Dir ziehe Glück ins Haus"

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Henriette Davidis war die berühmteste Kochbuchautorin des 19. Jahrhunderts. In Wetter an der Ruhr kocht ein Herren-Fanclub regelmäßig ihre Gerichte nach. Zu Gast bei einem ungewöhnlichen Adventsessen.

Von Monika Goetsch

Kochbuchautoin Henriette Davidis (1801 – 1876). (Foto: Henriette-Davidis-Museum)

Kurze Rippen soll man besorgen und sie in Stücke von der Größe einer halben Hand hauen. Alles mit nicht zu reichlich Wasser und nicht zu viel Salz aufschäumen. Zwiebeln dazu, Nelkenpfeffer. Späterhin einige Zitronenscheiben. Die Sauce dann soll zwar ganz gebunden, aber nicht zu dicklich sein.

Bloß: Was bedeutet "nicht zu reichlich"? Wann ist "späterhin"? Und wie lange kocht das Ganze überhaupt?

Einen ungeübten Koch kann so viel Lässigkeit schon in Not bringen. Nicht aber die sieben Männer, die sich an diesem Mittwochabend in Wetter zum Potthastkochen treffen.

Der Himmel über dem Kohlenpottstädtchen Wetter an der Ruhr ist winterlich dunkel, die Luft frisch. Vieles hat sich geändert. Das Wetter kaum. Der Ort ist ländlich geblieben, ein Dorf aus Dörfern. Dortmund ist nicht weit. Bochum. Doch hier auf dem Land muss man selbst loslegen, wenn was los sein soll. Vor 16 Jahren etwa fehlte in der Pfarrgemeinde ein Angebot, das Männer zusammenbrachte. Pfarrer Walter Methler wiederum hegte seit je eine große, gar nicht so leicht zu erklärende Leidenschaft zu Henriette Davidis.

Davidis, 1801 hier geboren, Verfasserin von elf verschiedenen Schriften, war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine ganz Große. Jeder, besser: Jede kannte sie. Leben konnte Davidis von ihrem Ruhm zwar nicht. Aber ihr Name galt etwas. Und im Kreis Kochkundiger tut er das noch heute. "Sie hat absolut den Nerv ihrer Zeit getroffen", schreibt ein anderer berühmter Koch, Eckart Witzigmann, der SZ auf Anfrage. Vor allem eines habe sie den jungen Hausfrauen sagen wollen: "Jeder kann kochen!"

Dabei erfand die Pfarrerstochter gar keine Rezepte. Sie sammelte sie nur und machte sie passend und zugänglich. So wie die Brüder Grimm Märchen sammelten und passend und zugänglich machten. Sie war auch nicht konkurrenzlos. 400 Kochbücher gab es bereits, auch solche, die sich im Deutschen Bund der vielen Einzelstaaten der gesamtdeutschen Küche widmeten. Aber das Kochbuch von Henriette Davidis war erfolgreicher als alle anderen.

Die Serie „Deutschlandreise“ besucht Orte der deutschen Literatur und Kulturgeschichte. Nächste Folge: Mit Doktor Faustus in Polling. (Foto: N/A)

1844 wurde das "Praktische Kochbuch" erstmals aufgelegt, 1400 Rezepte für Anfängerinnen und Fortgeschrittene, "zuverlässig und selbstgeprüft", viele Überarbeitungen folgten, erst von Davidis, dann, nach ihrem Tod in Dortmund 1876, auch ohne sie.

All das machte die Davidis zu einer Autorin, deren Werke man zu Hochzeiten verschenkte und zu Geburtstagen, die man weiterreichte und vererbte und verinnerlichte, sodass man irgendwann nicht mehr nachschlagen musste, wie ein Lachs mit gelber Sauce zu kochen ist, man wusste es einfach.

Kleine Mädchen wuchsen mit der "Puppenköchin Anna" auf, einem Heft voller Rezepte, ergänzt um Ermahnungen zu Reinlichkeit und Fügsamkeit. Denn die Davidis informierte nicht nur, sie erzog auch.

Methler, längst im Ruhestand, hat das alles rekonstruiert. Was Davidis angeht, ist er Heimatforscher, Sammler, Buchautor und Museumsgründer in einer Person. Viel Geld und sehr viel Zeit hat er erübrigt, um die Geschichte dieser Frau zu erhellen. Naheliegend, in ihrem Namen zu kochen. So kam eins zum anderen. Der Kochkreis Henriette Davidis entstand, seine Mitglieder sind um die zehn Männer, keine Profis, man trifft sich reihum und kocht, häufig nach dem "Praktischen Kochbuch". Ein bisschen aus der Zeit gefallen ist das schon. Und auch wieder nicht. Schließlich ist die Sehnsucht nach grundlegenden, einfachen Dingen eine sehr aktuelle.

Gekocht wird diesmal, zur Adventszeit, im weihnachtlich geschmückten Reihenhaus von Christian Kluge. Die Rinderrippchen hat der Hausherr am Vortag angeschmurgelt, gewürzt und geschmort. Das dauerte ein paar Stunden. Präziser wird Kluge nicht. Er ist zwar Lehrer und unterrichtet auch Mathematik, aber Kochen hat für ihn mit Zahlen wenig zu tun.

Fast 150 Jahre nach ihrem Tod bereitet ein Kochverein aus Männern in Davidis' Geburtsort Wetter an der Ruhr eines ihrer weihnachtlichen Gerichte zu. (Foto: privat)

Vor der Erfindung des Elektroherdes ließen sich Garzeiten und Temperatur ohnehin nicht beziffern. Davidis beschreibt darum die Qualität des Feuers. Das müsse "gehörig besorgt" sein, die Töpfe seien nicht zu tief hineinzustellen, "Achtsamkeit und Überlegung" bestünden darin, "die Speisen zur echten Zeit, weder zu früh noch zu spät, aufs Feuer zu bringen". Übersetzt in die heutige Sprache heißt das: die Platte nicht zu hoch schalten. Immer wieder umrühren. Probieren.

Und die Mengenangaben? Lieber vertraute Davidis - nicht jeder Haushalt verfügte über eine Waage - auf das "aufmerksame Augenmaß" der Köchin.

Ungewohnt ist das. "500 g, 11 Minuten", steht heute auf jeder Nudelpackung. "1000 ml, 64 kcal" auf der Vollmilch. Und Rezepte kommen so exakt daher, als handele es sich um eine Wissenschaft. Dabei gewähren fehlende Angaben auch eine gewisse Freiheit. Und die, das findet zumindest Christian Kluge, ist ja eigentlich das Schöne am Kochen.

Sein zwölfjähriger Sohn schenkt den Herren Wasser ein und Cola. Kochen kann er auch, eine eigene Tomatensauce zum Beispiel (sein Trick: Sahne und ein Schuss Kondensmilch!). In Kluges Schulklassen dagegen sitzen viele, die zu Hause nicht einmal ein Frühstück bekommen. Ob mittags gekocht wird, nicht nur aufgewärmt, was die Kühltruhe ausspuckt? Mehr als fraglich. Reihenweise sieht Kluge, so sagt er, "Mädchen umfallen", er vermutet: Sie essen zu wenig. Im Biedermeier fiel man in Ohnmacht, weil das Korsett zu fest geschnürt war. Pfarrer Methler hat darum ein Riechfläschchen in die Vitrine des von ihm eingerichteten Henriette-Davidis-Museums gestellt. Neben die Kapsel, in die man ein blutgetränktes Stück Stoff schob, um das Ding dann unterm Rock zu befestigen - eine Flohfalle.

Kochen, das lehrte sie, ist nichts für Hastige: Originalausgabe, 1844. (Foto: Henriette-Davidis-Museum)

Das liebenswürdige Museum zeigt eine Zeit, in der man in Kutschen reiste und eigenhändig erzeugte, was heute die Lebensmittelindustrie herstellt. Vielmehr: Die Frauen erzeugten es. Der bürgerliche Mann arbeitete bereits meist außer Haus. Der öffentliche Raum gehörte ihm. Die Frau privatisierte.

"Dass dir ziehe Glück ins Haus:/ Schaue nicht zu weit hinaus", dichtet Henriette Davidis in ihrer Schrift "Die Hausfrau". Selbst zeitlebens unverheiratet, häufig auf Achse, eher unerschrocken im Umgang mit ihren Verlegern, preist sie doch "das biedermeierliche Ideal hausfraulicher Vollkommenheit" (Methler). Immerhin: Im Biedermeier galten Hausarbeit und Kindererziehung noch was. Aber die Abwertung unbezahlter Arbeit schritt voran. Die biedermeierliche Beschränkung der Frau auf das, was man als weiblich empfand, war daran gewiss nicht unschuldig.

War sie nun emanzipiert - oder fand sie, dass Frauen an den Herd gehören?

Pfarrer Methler allerdings besteht darauf: "Davidis war eine Reformerin. Und sie hatte durchaus einen emanzipatorischen Ansatz." Er belegt das mit einer Passage des 1857 erschienenen Buchs "Beruf der Jungfrau", wo es heißt: "Suche dich, meine Jungfrau... früh genug für das Fach tüchtig auszubilden, zu welchem Du besondere Anlage und Neigung zeigst." Davidis erwähnt verschiedene Berufe, die der unverheirateten Frau offenstünden.

Das war damals in der Tat fortschrittlich. Dass allerdings 141 Jahre nach ihrem Tod Männer weiße Kochkittel mit der Aufschrift Davidis tragen und ihren Potthast kochen würden, hätte wohl auch die "Reformerin" nicht erwartet.

Im Hause Kluge werden die Aufgaben verteilt. Die einen kümmern sich um die Kartoffeln, die anderen um die Kekse, wieder andere beschäftigen sich mit den Rippchen, an denen das Fleisch so lose und fasrig sitzt wie amerikanisches Pulled Pork (auf Niedrigtemperatur gegartes, gezupftes Schweinefleisch). Davidis' Potthast allerdings stammt vom Rind. Er braucht nicht annähernd so lange. Ist dafür auch nicht so aromatisch. Aber ebenfalls leicht zu kauen, im 19. Jahrhundert, wo sich nicht jedermann an heilen Zähnen erfreute, eine willkommene Eigenschaft (Henriette Davidis empfahl: ein bis zweimal die Woche Zahnpulver).

Die Herren erinnern sich: Vieles haben sie der Davidis schon nachgekocht. Zuchtwachteln gab es schon. Auch Blindhuhn war gut, ein sämiger Bohneneintopf. Rossfleisch haben sie mal ausprobiert, als Gulasch. Den Ekel, gegen den Davidis im Sinne der Sparsamkeit anschreibt ("denn nur Vorurtheile - keine verständigen Gründe sind es, welche Verachtung gegen dieses Fleisch unterhalten und nähren"), kann man, finden die Herren, rasch überwinden.

In einem alten Fachwerkhaus der Stadt ist heute das Henriette-Davidis-Museum untergebracht. (Foto: imago)

Dann die Tauben, eine für jeden Koch. Das Rupfen und Ausnehmen besorgte der Metzger im Bochumer Schlachthof. Gar nicht so einfach wäre so was zu Hause. Wohin zum Beispiel mit den Gedärmen, in den Restmüll? In die Grüne Tonne? "Gute Frage", meint Michael Nehrenheim, gelernter Bäcker und Konditor.

Er lässt an einem Behälter schnuppern, den er mitgebracht hat. Hirschhornsalz. Es kommt an die Teeletterchen, aber nur ein Hauch. Während Nehrenheim Blech um Blech aus dem Ofen zieht, reibt Christian Kluge Zwieback in die Rippchensauce. Die Kartoffeln kochen vor sich hin. Fehlt noch, die sauren Gurken zu arrangieren und die Rote Bete. Fertig.

Der Tisch ist gedeckt, keine Servietten, kein Schnickschnack, das hier ist Männerküche.

Beim Servieren muss dann allerdings doch Papier her, Sauce ist von der Kelle auf den Ärmel Nehrenheims geschwappt. Sie ist ein bisschen flüssig geraten. Macht nichts. Der Potthast, eigentlich viel zu schwer für Menschen, die den ganzen Tag sitzen, tröstet perfekt über alles hinweg.

Früher, sinniert Nehrenheim, war die Butter fetthaltiger, der Zucker gröber, das Mehl weniger weiß. Besser oder schlechter? Anders, sagt er achselzuckend. Seine Teeletterchen, die bereits am Tannenbaum hängen, halten in jedem Fall ewig.

Und Haltbarkeit: Wie schwer war die zu erringen vor der Erfindung der Kühlschränke und Gefriertruhen! Man pökelte, kochte ein, dörrte, trocknete. Mühevoll war das. Wie auch das Hasenausnehmen, von dem die Davidis schreibt, wie auch das Schuppen von Flussfischen und das Weichkochen von Trockenfrüchten zu Kompott. Umständlich und zeitraubend. Aber war da nicht doch auch viel Gutes daran?

Eckart Witzigmann glaubt, dass Henriette Davidis heute "ein Star auf Instagram" wäre

Nach dem Essen, das in westfälischem Schweigen verspeist wird, geht es genau darum. Michael Dammer, Diplomingenieur, ist der Kämpferischste. Dass die Leute keine Zeit haben zum Kochen, sei doch bloß eine Ausrede. "Sie haben keine Lust!" Dabei müsse man doch überlegen, was einem wichtig sei!

Henriette Davidis: Illustriertes praktisches Kochbuch (Neuausgabe von 1920). (Foto: N/A)

Die anderen pflichten bei. Werte gelte es zu verteidigen. Gegen Industrieware, die immer gleich daherkommt. Gegen Fertiggerichte und Fast Food. Dagegen, dass das Kochen weiter vor die Hunde kommt.

Wie wohl die Davidis zu solchen Fragen stünde? Würde sie sich auf dem heutigen Markt überhaupt behaupten? Sie könnte "ein Star auf Instagram sein", überlegt Eckart Witzigmann in seiner Mail, und auf einem eigenen Youtube-Kanal Millionen Klickzahlen erzielen. Auch die Lebensmittel- und Küchengeräteindustrie würde sie lieben, vermutet er. Schließlich hat sie schon immer ungeniert Werbung für neueste Produkte gemacht, vor allem - zu ihrer Zeit auch wegen der bunten Sammelbildchen ungeheuer populär - Liebigs Fleischextrakt: eine wunderbare Erleichterung für Köchinnen, die Suppe als Vorspeise zu servieren hatten. Auch der Davidis, zeigt sich, ging es bereits um Effektivität und Ökonomie.

Was am Ende das größte Kompliment für ein Kochbuch sei, fragt sich Witzigmann noch. Seine Antwort: "Dass es benutzt wird!" So gesehen haben die Herren des Kochkreises dem "Praktischen Kochbuch" und seiner Autorin an diesem Abend ein grandioses Kompliment gemacht. Gegen kurz vor zehn ist alles vollbracht. Sie streifen die weißen Kochjacken ab. Es ist ja ein Werktag. Ein paar Scherze noch. Dann geht es ab in die Autos, durch die Nacht.

© SZ vom 16.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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